Totenreise
mit verächtlicher Miene. »Morgen werde ich Euch erneut rufen lassen, und dann erzählt Ihr mir, was Ihr wisst. Und zwar alles.«
Pascal überlief ein Schaudern angesichts der versteckten Drohung. Noch wusste er nicht, was von ihm erwartet wurde, was er verbrochen haben sollte, hier, in dieser Epoche. Er brauchte Informationen von Mathieu.
Sobald er die Gelegenheit dazu hätte, würde er versuchen, mit Daphne in Kontakt zu treten. Er durfte allerdings nicht vergessen, dass der Countdown auch für diese Epoche schon eine Weile lief.
Sie zerrten ihn durch die finsteren Gänge, zurück in die Verliese des Palasts. Beatrice folgte unbemerkt. Sie hatte beobachtet, wo der Dominikaner den Stein verwahrte, bevor sie den Saal verlassen hatte. Natürlich würde sie ihn holen müssen.
***
Es dauerte nicht lange, und Daphne hatte sich wieder beruhigt. Sie verzieh Jules den Fehler. Schließlich waren weder Dominique noch er geübt im Umgang mit solchen Gefahren. Im Grunde hatte sie selbst etwas falsch gemacht: Zu ihren Aufgaben gehörte es auch, ein Auge auf die beiden zu haben.
»Es genügt, wenn du ab jetzt hundertprozentig bei der Sache bist«, sagte sie zu Jules und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter, »so machst du deinen Fehler wieder gut, in Ordnung?«
Jules nickte dankbar für diese zweite Gelegenheit. Trotzdem wurmte ihn, wie schnell er in Varneys Falle getappt war. Er kam sich wie ein Dummkopf vor.
»Komm schon«, ermunterte ihn Dominique, während er den Riegel an der Tür zum Treppenhaus überprüfte. »Ins Haus gekommen ist er bestimmt irgendwie. Doch diesmal erwischt er uns wenigstens nicht unvorbereitet.«
Daphne fragte sich, wieso der Vampir noch nicht angegriffen hatte. Was führte er im Schilde? Ihr Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als sie ein vertrautes Kribbeln in den Fingern spürte. Gleich würden die Krämpfe beginnen und schließlich eine weitere Trance einsetzen.
Es konnte nur Pascal sein, der da Kontakt mit ihr suchte.
»Jungs, ruft Mathieu an, vielleicht brauchen wir ihn zum zweiten Mal. Ich bekomme Zeichen aus der anderen Welt.«
Dominique fürchtete, dass Mathieu um diese Zeit bereits zu Hause war, in seinem Bett lag und schlief. Trotzdem nahm er das Handy und wählte seine Nummer.
***
Varney lief eilig die Treppe hinauf, die um den Aufzugsschacht herumführte. Alles in ihm lechzte nach Blut. Ja, er würde sich genussvoll stärken, bevor er dann zur Zerstörung der Dunklen Pforte schritt. Einer Aufgabe, die, war sie erst erledigt, der Grundstein war für alles Kommende, für ein Goldenes Zeitalter der Vampire … Er hetzte weiter die Stufen hinauf, voller Vorfreude, doch als er den vierten Stock mit den um diese Uhrzeit leeren Büros erreichte, musste er stehen bleiben.
Oben auf dem Treppenabsatz stand eine Gestalt, die er bereits kannte: der Wächter der Pforte. Der Mann, der sich von seinem Erscheinen nicht aus der Ruhe bringen ließ, wie schon bei ihrer ersten Begegnung. Jetzt zog er sein silbernes Schwert und brachte es in Anschlag. Um seinen Hals hing das Medaillon der Bruderschaft, die seit Jahrhunderten die Wächter für die Dunkle Pforte abstellte.
»Ich habe dich erwartet«, sagte der Wächter und blickte das blutrünstige Monster aufmerksam an.
»Du«, stieß Varney mit kaum hörbarer Stimme hervor. »Du bist wirklich ein leichtsinniger Dummkopf. Dein letztes Stündlein hat geschlagen.«
Der Wächter aber reagierte nicht auf diese Provokation. Würdevoll stand er an seinem Platz und versperrte den Weg zum Dachboden.
»Die Dunkle Pforte muss geschützt werden«, bemerkte er. »Gib dein Vorhaben auf und beuge dich dem Licht. Oder ich töte dich, und du wirst auf ewig in der Finsternis verschwinden.«
Varney lachte laut auf.
»Dummkopf!«, brüllte er und zeigte seine Fangzähne. »Glaubst du wirklich, du kannst mich aufhalten?«
»Du solltest es ernst nehmen«, sagte der Wächter mit klopfendem Herzen. »Ich kann dich töten. Und ich werde es tun, wenn nötig.«
»Ernst nehmen?« Varneys Körper veränderte, verwandelte sich und nahm ein bedrohliches Aussehen an. »Ich bin die Angst, du Träumer! Ich bin die Angst!«
Das Monster riss seinen Rachen auf und bewegte genüsslich die Klauen mit den gekrümmten Krallen.
»Genieß den letzten Augenblick, in dem noch Blut durch deine Adern fließt, Sterblicher …«
Der Wächter hatte noch nie einen Vampir in Aktion gesehen, und was sich da vor seinen Augen abspielte, überstieg sein
Weitere Kostenlose Bücher