Totenreise
Vorstellungsvermögen. Varney setzte zu einem gewaltigen Sprung an. Einen Augenblick schwebte er über ihm in der Luft, um sich auf ihn zu stürzen. Doch der Wächter machte eine abwehrende Bewegung mit dem Schwert, die Silberklinge, das Medaillon an der Kette blitzten auf und Varney musste sich zurückziehen. Er fauchte und startete den nächsten Angriff. Diesmal gelang es ihm. Mit seinen langen Krallen fuhr er dem Wächter über die Brust und brachte ihn zum Zurückweichen. Blut trat durch die zerfetzte Kleidung seines Gegners und floss warm herab. Beim Anblick der roten Flüssigkeit geriet der Vampir außer sich. Unruhig wie ein Tier im Käfig sprang er hin und her, brüllte laut und fletschte seine Fangzähne. Dann stürzte er sich mit wehendem Umhang auf ihn. Diesmal gelang es dem Wächter, dem Vampir geschickt eine Verletzung an der Flanke zuzufügen.
Varney heulte auf vor Schmerz und mit dem nächsten Schlag warf er den Wächter die Treppe hinunter. Doch er hatte nicht mit dem Silberschwert gerechnet. Wie von allein fuhr es durch die Luft und brachte dem Vampir eine zweite Wunde am Arm bei. Wütend hielt sich das Monster den Arm, doch es war noch nicht am Ende – zumal der Beschützer der Dunklen Pforte stöhnend auf den Treppenstufen lag. Varney machte sich bereit, seinen Gegner zu vernichten, doch er kam nicht dazu: Ein Stockwerk über ihnen ging eine Tür auf.
»Ist da jemand?«, fragte Blanche Pelen, die einzige Mieterin hier im Gebäude, und beugte sich über das Geländer.
Varney blickte erst zu dem Wächter, der hilflos auf der Treppe lag und auf den nächsten Angriff wartete, und dann zu dem Gesicht über sich.
Erschrocken erriet der Wächter von seinem Platz aus, was der Vampir vorhatte.
»Zurück, Madame!«, schrie er und mühte sich trotz seiner Schmerzen, aufzustehen. »Schließen Sie die Tür und kommen Sie nicht mehr heraus!«
Doch es war zu spät. In Windeseile hatte der Vampir die Stufen erklommen und Sekunden danach lag ihr Leichnam auf der Treppe. Das Untier hatte ihm den Kopf abgerissen und musste sich zusammennehmen, um nicht von dem Blut zu lecken, das über die Stufen rann. Dazu war nachher noch Zeit.
***
»Morgen ist zwar Samstag, aber das geht jetzt doch ein bisschen zu weit«, beschwerte sich Mathieu mit einem Gähnen am Telefon. »Ich hab schon geschlafen!«
Dominique entschuldigte sich hastig, und er klang so nervös, dass selbst der schläfrige Mathieu es bemerkte.
»Ich hoffe, ihr erklärt mir irgendwann alles …«
»Na klar«, beeilte sich Dominique zu versichern. Der Vampir konnte jeden Moment auftauchen.
»Na los, was ist es diesmal?«, murmelte Mathieu.
Dominique wiederholte alles, was Daphne von sich gab. Zuerst wollte Pascal durch sie wissen, worin Ketzerei bestand und was genau ein Ketzer war. Dominique hätte selbst eine ungefähre Antwort geben können, ohne Mathieu um Hilfe zu bitten. Doch er beschränkte sich auf seine Rolle als Vermittler.
»Also …«, Mathieu versuchte seine Kenntnisse zusammenzufassen. »Ketzerei ist alles«, erklärte er, »das gegen die Glaubensregeln des Christentums verstößt.«
Dominique gab diese Information weiter und stellte seinem Freund dann weitere Fragen.
»Und Dominikaner? Am Anfang des 16. Jahrhunderts?« Mathieu war jetzt hellwach. »Es geht um die Heilige Inquisition. Ein tolles Thema! Das war eine Organisation der Katholischen Kirche, damit beauftragt, gegen Ketzerei in Europa vorzugehen, um die Macht der Kirche in Rom zu sichern. Sie bestand mehrere Jahrhunderte und war so mächtig, dass selbst Könige sich vor ihr fürchteten. In Spanien trat ein berühmter Großinquisitor auf. Tomás de Torquemada. Er war vom Orden der Dominikaner. In seine Hände zu fallen, war das Schlimmste, das einem Menschen, der als Ketzer angeklagt war, geschehen konnte.«
»Warum?«
»Glaub nicht, dass die Inquisition sich große Mühe gemacht hätte, ihre Anschuldigungen zu beweisen. Wenn jemand in den Verdacht geriet, von der rechten Lehre abzuweichen, wurde er verhaftet, sein Besitz wurde konfisziert und er landete im Verlies. Aber das ist noch nicht alles.«
»Noch etwas?« Dominique konnte sich nicht vorstellen, was Pascal mit all diesen Informationen wollte, doch er fürchtete, dass er, wie auch immer, erneut in Schwierigkeiten war.
»Die Inquisitoren waren Meister der Folter«, fuhr Mathieu fort. »Wenn sie keine Beweise hatten, um einen Gefangenen einer Verfehlung in ihrem Sinne zu bezichtigen, brauchten sie sein Geständnis,
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