Totenreise
Abend bot sie sich bei Jules Marceaux; Dominique, dessen Eltern nicht da waren, hatte sich mit Jules auf dem Dachboden verabredet; vielleicht wollten sie irgendwelche alten Klamotten heraussuchen … was weiß ich … Jedenfalls ist es Varney gelungen, sie dort zu überraschen.«
»Nicht ohne vorher der Nachbarin auf der Treppe zu begegnen und sie zu töten.«
»So ist es gewesen. Und ich habe eine solche Aktion an dem Abend für möglich gehalten«, gestand Marcel und verlagerte ein wenig sein Gewicht. »Ich hatte so eine Ahnung, dass unser Psychopath wieder auftauchen würde, und ich hatte recht. Allerdings war ich auf der Suche nach einem handfesten Beweis, bevor ich dich alarmiere. Du musst verstehen, dass ich nichts überstürzen wollte. Nach meinen übernatürlichen Theorien hättest du einen weiteren Irrtum nicht sehr gut aufgenommen.«
»Wir sind Freunde, Marcel!«, rief sie aus. »Und so blöd bin ich auch wieder nicht. Oder vielleicht doch«, murmelte sie nach kurzem Nachdenken.
Sie begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Und was ist mit diesem Silberdolch, den wir auf dem Dachboden gefunden haben?« Sie sah Marcel scharf an. »Es gab alle möglichen Spuren darauf, und Varney trug Verletzungen einer Stichwaffe …«
Marcel senkte den Blick und tat beschämt.
»Dir ist doch klar, dass ich ihn benutzt habe«, gestand er. »Es gab noch immer ein paar Sachen, die nicht passten, deshalb hatte ich meine Theorien noch nicht ganz aufgegeben. Vergiss es.«
»Jedenfalls ist das kein Blut auf der Klinge, sondern eine ziemlich merkwürdige Substanz, die gerade analysiert wird«, schnaubte sie. »Was ist eigentlich mit deiner Pistole? Wie konntest du mit einer solch alten Schwertwaffe gegen Varney antreten?«
»Unser Mörder hat auch keine Schusswaffen benutzt«, verteidigte sich Marcel. »Kein einziges Mal.«
»Das stimmt. Obwohl mich das nicht gerade beruhigt. Du hättest schießen sollen.«
Marcel reagierte mit einem Lächeln. Er wollte weg von diesem Detail und bediente sich dazu des kleinen Geheimnisses von Marguerite, von dem sie sicher nicht wollte, dass es ans Licht kam.
»Soll ich die Munition, die ich Varneys Leichnam entnehmen werde, an die Ballistik schicken?«, fragte er mit Unschuldsmiene.
»Nicht nötig«, beeilte sie sich mit einer gewissen Gereiztheit zu sagen. »Außer mir hat niemand geschossen.«
»Einverstanden, Marguerite. Wie du meinst.«
»Der Mörder muss es ziemlich eilig gehabt haben«, bemerkte sie, während sie über ihre Amethystkette strich. »Jeder Tag, den Dominique noch am Leben war, erhöhte das Risiko, dass er etwas ausplauderte.«
»Deshalb war er an diesem Abend so unvorsichtig. Seine ersten Verbrechen dagegen waren perfekt. Besonders der Mord an dem Lehrer.«
Marguerite wiegte den Kopf.
»Aber warum an den Ort des Verbrechens zurückkehren? Warum dieser seltsame Schachzug, sein Opfer zu ersetzen, anstatt sich aus dem Staub zu machen? Hat er ihn etwa deshalb getötet? Um an diese Schule zu kommen?« Nachdenklich befingerte sie ihre Kette. »Und warum hat er ihm das Blut abgezapft? So vieles ist noch ungeklärt … Auch das leere Grab von Luc Gautier. Jetzt spielt es keine Rolle mehr, aber was ist mit der Leiche passiert? Vielleicht ist dieser Gautier ja nie dort begraben worden …«
Marcel seufzte.
»Ich weiß auch nicht auf alles eine Antwort.«
»Kein Wunder. Denk nur an das Paar auf der Dachterrasse, das in dieser letzten Nacht ermordet wurde. Das Blutabzapfen bei der Frau, das ist Varneys Handschrift. Es gibt keinen Zweifel, dass er der Täter ist. Aber warum hat er sie umgebracht, bevor er zu Jules Marceaux gegangen ist?«
Marcel sah sich gezwungen zu improvisieren und setzte dazu eine erschöpfte Miene auf: »Womöglich hat er das Apartment dazu benutzt, Jules’ Zuhause zu beobachten, um festzustellen, wann Dominique dort eintraf.«
»Schon möglich. Trotzdem kommt es mir ziemlich an den Haaren herbeigezogen vor.«
»Alles dreht sich doch um das Motiv für den Mord an Delaveau. Ich fürchte, Varney hat es mit ins Grab genommen, und damit die Antwort auf die übrigen Fragen, die ich mir ebenfalls stelle. Doch das war es wert gewesen, oder nicht?«
Marguerite blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
»Wie meinst du das?«
»Dass es besser ist, ein paar ungelöste Fragen zu haben, dafür aber das Blutbad beendet ist. Er wird nicht mehr töten, Marguerite. Das ist entscheidend.«
Sie blickte ihn nachdenklich an, bevor sie antwortete.
»Du hast wohl
Weitere Kostenlose Bücher