Totenreise
Michelle nur noch die Gefahr der Zeitüberschreitung im Zwischenreich. Daphne vertraute darauf, dass Pascal dies bedachte.
»Wann kommen sie wohl zurück?«, fragte Dominique unruhig. »Wenn sie in der Truhe landen, ist vielleicht niemand auf dem Dachboden, um sie in Empfang zu nehmen.«
Daphne blickte ihn mitfühlend an.
»Glaub mir, nach allem, was sie auf ihrer Reise erlebt haben, ist ein leerer Dachboden nebensächlich. Und wir beide werden ja auch bald aus dem Krankenhaus entlassen.« Mit verschmitztem Gesichtsausdruck nahm sie einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Deine Eltern bringen dich bestimmt nach Hause, aber ich werde wieder zur Dunklen Pforte zurückkehren. Mach dir also keine Sorgen, Pascal und das Mädchen werden nicht allein sein. Und vergiss nicht, er kann sich jederzeit auch mit mir in Verbindung setzen.«
Dominiques Anspannung ließ ein wenig nach, und an der tiefen Müdigkeit, die ihn befiel, bemerkte er, wie sehr ihn die Nacht angestrengt hatte.
Er brauchte Schlaf. Sie alle brauchten Schlaf, einen langen, erholsamen Schlaf ohne Albträume. Er versuchte zwar, sich dagegen zu wehren; solange er von Pascal nichts Neues gehört hatte, kam er sich wie ein Verräter vor. Doch es war zwecklos, sein Körper verlangte nach Ruhe.
»Jules geht es anscheinend besser«, hörte er Daphnes Stimme noch sagen, und bevor er in Schlaf versank, stellte er sich eine letzte, schmerzhafte Frage: Und wenn es Pascal doch nicht gelang, Michelle zu befreien? Und es gab sogar noch eine schlimmere Variante: Wenn es auch Pascal nicht gelang, zurückzukommen?
***
»Ich weiß schon, dass du an solche Sachen nicht glaubst«, bemerkte Marcel, bevor er Marguerite nun eine weitere dicke Lüge vorsetzte. »Aber die Wahrsagerin, Daphne, die Hexe, wie du sie gern nennst, hatte einen Traum, in dem sie gesehen hat, wie Varney Delaveau tötete.«
»Okay«, gestand Marguerite ihm zu, »bei den Theorien, die du mir unterbreitet hast, kommt mir das nicht einmal besonders abwegig vor. Es soll ja Leute mit solchen Fähigkeiten geben. Weiter.«
»In diesem Traum tauchte auch Dominique auf, also wusste sie, dass der Junge ein wichtiger Zeuge war … und dass er in höchster Gefahr schwebte. Deshalb hat sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt.«
»Kannte sie ihn schon?«
»Ja, er war zuvor schon einmal bei ihr gewesen, um sich die Zukunft voraussagen zu lassen.«
Marguerite setzte wieder ihre skeptische Miene auf.
»Verstehe«, sagte sie spitz.
»Sie hat ihn jedenfalls gefunden; sie hatte ja Namen und Adresse.«
»Hat sie ihm nicht gesagt, dass er sich an uns wenden soll, an die Polizei? Das hätte sie gleich tun sollen …«
»Daphne vertraut der Polizei nicht besonders, du weißt doch, wie so jemand ist. Sie haben beschlossen, erst einmal nach einem handfesten Beweis für das zu suchen, was Dominique in der Halloweennacht meinte gesehen zu haben …«
»Die Leute sind ganz schön leichtsinnig. Ich nehme an, dass sie und Jules Marceaux deshalb zu dem verlassenen Haus gefahren sind.«
»Genau. Das Haus ist anscheinend ebenfalls in Daphnes Traum aufgetaucht, auch wenn sie in dem alten Palais nichts gefunden haben.«
»Ich will lieber nicht mehr daran denken. Dazu passt aber auch, dass ich die … die Wahrsagerin im Park Monceau gesehen habe, nachdem man die Leichen von Raoul und Melanie entdeckt hatte.«
»Ja, sie hat sich selbst auf Spurensuche gemacht, während die Jungs in der Schule waren.«
»Aber die Frau war nicht mit Dominique, sondern mit Jules in dem verlassenen Haus.«
Marcel hatte schon darauf gewartet, dass Marguerite deshalb nachhaken würde.
»Sie haben ihn ebenfalls in ihre Nachforschungen eingeweiht«, antwortete er. »Deshalb hat er sie auch hin und wieder begleitet.«
»Sie haben ihn eingeweiht? Das klingt wirklich unglaublich«, sagte sie gereizt. »Es ist ja, als würden sie irgendein Spiel spielen!«
Marcel beeilte sich weiterzuerzählen; er musste zum Ende seiner Story kommen, bevor Marguerite noch mehr Einwände fand.
»Letzte Nacht wollten sich die drei bei Jules auf dem Dachboden treffen, um ungestört über ihr Geheimnis zu reden. Nach einigem Hin und Her haben sie dann beschlossen, zur Polizei zu gehen. Sie hatten zwar noch immer keine Beweise, aber die Gefahr, in der sie schwebten, war untragbar geworden. Doch Varney, der ihnen die ganze Zeit hinterherspioniert hatte, wusste von der Verabredung; für ihn war es die perfekte Gelegenheit: alle, die ihm etwas anhaben konnten, waren am selben
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