Die leere Wiege: Roman (German Edition)
1.
Lautlos trete ich über die Schwelle und lausche der Stille des Hauses. In dieser Stunde, zwischen drei und vier Uhr nachts, wenn die Menschen tief und fest schlafen, wirkt die Küche größer und leerer als bei Tageslicht. Anders. Nein, ich fühle mich anders, denn diesmal nehme ich Abschied.
Ganz leicht liegt Emmas Duft noch in der Luft, das Parfum, das nach frischen Äpfeln riecht. Im Regal steht das Holzkistchen mit den verschiedenen Tees. Ich werde nie mehr beobachten können, wie sie sich darüberbeugt und ihr Haar wie ein Vorhang herabfällt, wie sie es zurückstreicht, während sie überlegt, welchen Tee sie trinken möchte. Auch Luke werde ich nie wiedersehen, das hat sie mir deutlich gesagt.
Mein Blick streift das große Bild an der Wand. Ein Druck, der den Eiffelturm zeigt, denn dort hat sie mit ihrem ersten Ehemann die Flitterwochen verbracht. Auf der Arbeitsplatte sind schmutzige Teller und Besteck, an dem die vertrockneten Reste ihrer letzten Mahlzeit kleben. Ich dachte immer, sie wäre so ordentlich, aber im Grunde habe ich sie gar nicht richtig gekannt. Nicht so, wie du es getan hast.
Ich durchquere die Küche bis zu dem großen Esszimmer, ganz langsam, denn ich möchte nicht, dass mir etwas entgeht. Alles will ich mir einprägen. Dort haben wir gesessen, Emma und ich, hatten die Hände um unsere warmen Teebecher gelegt. Die rote Farbe der Wände merke ich mir ebenso wie das weiße Fichtenholz des Fenstersitzes. Auf dem Tisch liegen eine Packung Silk-Cut-Zigaretten und ein Streichholzbriefchen. Angeblich hat Emma das Rauchen aufgegeben, aber der Tag heute hatte es in sich.
Mein Blick wandert weiter. Ich sehe mich in dem kleinen Spiegel an der Wand und erschrecke über das, was mein Gesicht verrät: Auf meinen Wangen brennen rote Flecke, und meine Augen wirken beinahe schwarz. Ich trete näher. Meine Pupillen sind extrem geweitet. Aufgeregt wirke ich, wenn nicht sogar erregt.
Kurz beginnt mein Herz zu rasen, und meine Hände werden feucht. Das muss der nervöse Kitzel sein, der Einbrecher befällt. Nur dass ich nichts stehlen werde. Emma ist die Diebin, nicht ich. Das Einzige, was ich aus diesem Haus jemals entwendet habe, ist der Schlüssel für die Hintertür, den ich heimlich habe nachmachen lassen, ehe ich ihn wieder an seinen Haken gehängt habe.
Leise steige ich die Treppe hoch und meide jene Stellen, von denen ich weiß, dass sie unter meinem Gewicht knarren. Nachtlichter brennen auf dem oberen Flur, und Emmas Tür steht ein Stück weit offen. Ich spähe in ihr Schlafzimmer. Die Vorhänge sind zurückgezogen, der Mond ist groß und rund.
Emma schläft auf der Fensterseite und hat die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Neben ihr liegt der schwere Körper eines Mannes unter der Bettdecke verborgen: Dominic. Ich betrete das Schlafzimmer und schleiche mich näher. Wie ein Fötus hat sie sich eingerollt. Ich betrachte ihr perfektes Ohr, die Wange, das blonde Haar, das in dem dämmrigen Licht aschfarben wirkt, und frage mich, ob ich sie berühren könnte, ohne dass sie aufwacht. Nur noch wenige Zentimeter trennen mich von ihr.
Sie wälzt sich herum, und ich erstarre. Doch dann wird mir klar, dass sie sich nur in einem unruhigen Traum bewegt. Ihr Gesicht ist mir halb zugewandt. Ich erkenne die steile Falte auf ihrer Stirn und die verkniffenen Lippen. Habe ich das bewirkt, oder liegt die Schuld dafür bei dir?
Ich kehre zurück in den Flur, tappe weiter zum Kinderzimmer und schlüpfe durch die halb geöffnete Tür. In dem kleinen Zimmer schläft das wunderschöne Baby in seinem Bettchen. Es ist ein Junge. Er liegt auf dem Rücken, als hätte er sich ergeben, die kleinen Fäuste auf der Wolldecke, das Gesicht friedlich entspannt. Weiche Haut hat er und dicke Pausbäckchen. Sonst schaue ich ihm immer beim Schlafen zu, doch heute Nacht genügt es mir nicht.
Luke ist meinen Griff und meinen Geruch gewohnt. Er regt sich, als ich ihn hochhebe. In dem Augenblick glaube ich, im Nebenzimmer eine Stimme zu hören, und halte inne. Jetzt ist es wieder still. Lukes Körper ist mir vertraut. Ich wiege ihn, lege einen Arm unter seinen Rücken und die freie Hand auf seinen Schenkel, so wie man es machen muss. Ganz ruhig liegt er da und schmiegt den Kopf an meine Brust.
Ich liebe ihn, liebe ihn unbändig.
Wieder höre ich einen Laut im Nebenzimmer. Wie erstarrt stehe ich da und warte. Der Laut wird zu einem Flüstern und dann zu Stöhnen. Ein Bett stößt rhythmisch gegen die Wand. Behutsam, um
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