Totenreise
schließen. Doch darauf musste er noch ein wenig warten.
Lautlos schlich er auf die abseits stehenden Wachen zu, die mit ihren Blicken die Jagd auf Beatrice verfolgten. Erst als er ganz nah heran war, gab er den Schutz der Dunkelheit auf, tat ein paar Sprünge und stürzte sich auf die erste Gestalt, indem er ihr mit einem Schwerthieb den Schädel samt Kapuze abschlug. Die enthauptete Gestalt sackte zusammen und verwandelte sich in einen Haufen bleicher Knochen. Die Fackel, die sie getragen hatte, lag brennend daneben.
Weitere Fackeln fielen zu Boden. Die beiden anderen Mönchsskelette hatten bemerkt, was vor sich ging, und versuchten, sich auf ihn zu stürzen. Doch die Hitze, die das Schwert aussandte, und die Sicherheit, mit der Pascal es führte, halfen ihm, den ersten Angriff abzuwehren.
Diese Wesen waren tatsächlich intelligenter als die Ghule. Aufeinander abgestimmt, attackierten sie ihn und stürzten sich gleichzeitig auf Pascal. Die Impulse seines Schwerts beschleunigten sich und mit ungeheurer Schlagkraft bildeten sie eine Art Schutzschild um ihn herum. Mit einer so heftigen Gegenwehr hatten die beiden Skelettwesen nicht gerechnet und gingen unter dem Stakkato der Hiebe zu Boden. Einen von ihnen hatte Pascal verstümmelt, und bevor er sich wieder aufrichten konnte, hieb er ihm den Schädel ab. Der andere nutzte die Gelegenheit, um zu fliehen und seine Begleiter zu alarmieren. Doch so weit sollte es nicht kommen. Pascal stürzte hinter ihm her und machte auch mit ihm kurzen Prozess. Er gönnte sich keine Verschnaufpause, wirbelte herum und rannte zu dem Karren zurück. Was er sah, ließ ihn erstarren: Der Karren war leer.
53
MICHELLE RANNTE, OHNE sich umzuschauen, und zerrte den Jungen mit sich. Sie stolperten häufig, verringerten jedoch aus Angst, wertvolle Sekunden zu verlieren, nicht ihr Tempo.
Michelle hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, den Jungen von seinen eisernen Ketten um Arme und Brust zu befreien, sondern ihm nur den Knebel abgenommen, damit er besser atmen konnte. Dann waren sie weitergehetzt. Verzweifelt suchte sie nach einer Möglichkeit, sich vor den Mönchsskeletten, die näher und näher kamen, verstecken zu können. Wenn sie nicht bald aus dem Sichtfeld ihrer Verfolger verschwanden, war nichts mehr zu machen. Dann wäre ihre Flucht wie das heftige Zappeln eines Fischs, den man aus dem Wasser gezogen hatte.
Doch plötzlich schälte sich aus der Dunkelheit eine Felsgruppe, bestehend aus mehreren gewaltigen, ineinander verschachtelten Blöcken. Dazwischen fanden sie einen kleinen Unterschlupf und schöpften erst einmal Luft. Michelle machte sich sofort daran, dem Jungen die Ketten abzunehmen, doch ohne richtiges Werkzeug gelang es ihr lediglich, sie ein wenig zu lockern.
»Wir dürfen jetzt keinen Lärm machen«, sagte sie zu ihm. »Versuchen wir es später noch einmal, okay?«
Der Junge nickte. Michelle hatte ihn noch nichts sagen hören, seit dieser Albtraum begonnen hatte, den sie miteinander erlebten, doch er verstand sie. Sie umarmte ihn, um ihm ein wenig Wärme und Sicherheit zu geben. Dabei bemerkte sie, dass er sich ziemlich kalt anfühlte.
»Ich heiße Michelle, und du?«, fragte sie ihn.
»Marc.«
»In Ordnung, Marc. Wir verhalten uns jetzt ganz still und warten, bis die Gefahr vorüber ist, ja?«
»Ist gut.«
Mehr sagte er nicht.
Michelle drehte sich um und warf einen Blick aus ihrem Versteck, betrachtete die weite Ebene, deren Horizont im Dunkeln lag. Sie wusste, dass es schier unmöglich war, hier zu überleben; ohne Wasser und Nahrung und ohne jede Orientierung in einer Landschaft, die sich womöglich über Tausende von Quadratkilometern erstreckte. Und wer wusste schon, welche Gefahren noch überall lauerten.
Nach und nach wurde es deutlich für Michelle, dass ihr hoffnungsvoller Fluchtplan ihnen jetzt nicht mehr weiterhalf. Wenn sie keine Hilfe fänden, würden sie sterben.
Tränen liefen ihr plötzlich still übers Gesicht, und sie versuchte, sie vor dem Jungen zu verbergen. Dem Jungen, der jetzt von ihr abhing und dem sie nicht die letzte Hoffnung rauben wollte. Hatte sie ihm nicht ein schlimmeres Schicksal beschert, als das, was ihm zugedacht gewesen war, indem sie ihn jetzt zur Flucht gezwungen hatte?
Etwas näherte sich, wurde immer bedrohlicher. Keuchen, Flüstern und das Klappern von Knochen. Die Skelettwesen suchten nach ihnen. Michelle und Marc pressten sich gegen den kalten Fels, als wollten sie mit ihm verschmelzen. Ihre Angst war so groß,
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