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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lozano Garbala
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seltsam geformter Kamin? Doch sogleich nahm sie wahr, dass dieses geheimnisvolle Wesen so etwas wie Augen haben musste, die beunruhigend glänzten, ja, es war eine … menschliche Gestalt und sie war eben aus ihrem Versteck geschlüpft.
    »Es belauert mich«, dachte Michelle mit wachsender Angst. »Es beobachtet mich nicht nur, es belauert mich.«
    Der nächtliche Spion, der sich offensichtlich ertappt wusste, machte nun ein paar mühelose Schritte über die Dachschräge, und Michelle konnte ausmachen, dass es sich um einen Mann mit blassem Gesicht handelte, der in einen dunklen Umhang gehüllt war. Doch da war dieser Blick. Gelb. Giftig. Trotz der Entfernung spürte sie, wie die seltsamen Augen sie förmlich durchbohrten.
    Was war das? Warum glänzten die Augen dieses Kerls nur so?
    Der Unbekannte setzte ein sarkastisches Lächeln auf und machte noch ein paar Schritte. Dann sprang er.
    ***
    Daphne öffnete die Augen und fand sich in der Rue de l’Arbre Sec wieder. Das Fehlen von Mond und Sternen bestätigten ihr, dass dies tatsächlich nicht mehr ihre Welt war. Klar, es war Paris. Das Paris der Toten, wohin ihr Geist gelangt war, indem er ihren Körper im Reich der Lebenden verlassen hatte. Sie befand sich auf einer okkulten Reise.
    Daphne fühlte sich vollkommen ruhig.
    Es gab keine Laternen, nur ein blasser Lichtschein schien aus allen Richtungen zu kommen. Es war weder kalt noch windig, und man hörte keinerlei Geräusche. Niemand war zu sehen.
    Doch sie war nicht allein, das spürte sie.
    Daphne drehte sich langsam um und bemerkte die dunkle Silhouette des abgestorbenen Baums, an dem die Hinrichtungen erfolgt waren, der ein paar Meter entfernt von ihr aufragte. Von einem der nackten Zweige hing ein dicker Strick, gespannt vom Gewicht eines Körpers, der leicht hin und her schwang; der Leichnam eines Erhängten. Der Tote drehte den Kopf, den er wegen der Schlinge gesenkt hielt, und fixierte sie mit Augen, die keine Pupillen besaßen. Es war ein leerer Blick, doch gerade diesem Nichts wohnte eine so große, zerstörerische Macht inne, dass Daphne zu Boden sank, unfähig, diese dunklen Augenhöhlen, die sich auf sie gerichtet hatten, zu ertragen. Erschrocken stellte sie fest, dass ihr Körper begann, auf den Baum, auf den Erhängten zuzukriechen; sie konnte nichts dagegen tun, es war, als würde er ihr nicht gehören, als würde er von einer magnetischen Kraft angezogen. Sie musste herausfinden, was da mit ihr passierte, ehe sie den hungrigen Wurzeln des Baums zu nahe käme und verschlungen würde; nie wieder könnte ihr Geist ins Reich der Lebenden zurückkehren und müsste für immer in diesem rissigen Baum voller verdammter Seelen bleiben.
    Daphne versuchte zu sprechen, doch sie brachte nur ein Flüstern heraus. Sie musste sich beruhigen, oder sie würde versagen.
    ***
    Einen Augenblick lang dachte Michelle, dass es sich um einen Selbstmörder handelte, und fast war sie erleichtert, als sie Zeuge der Aktion des Kerls mit den glänzenden Augen wurde, der ins Leere sprang. Doch augenblicklich wurde ihre klar, dass etwas Ungewöhnliches geschah: Der Unbekannte hatte sich nicht vom Dach gestürzt, sondern hielt sich in der Luft und kam mit wachsender Geschwindigkeit auf sie zu. Er fiel nicht. Er flog.
    Die Szene hatte etwas von schwarzer Magie. Der Mann hatte bei seinem Flug nicht einmal seinen bohrenden Blick abgewandt.
    Michelle hatte plötzlich einen trockenen Mund. Es gab keinen Zweifel mehr: Dieses Wesen war nicht menschlich, konnte es nicht sein. Sie stieß einen Angstschrei aus und rannte los. Ihr Überlebensinstinkt trog sie nicht.
    Auf ihrer panischen Flucht bog Michelle mehrmals in andere Straßen ein, doch der Schatten des Verfolgers tauchte jedes Mal wieder auf, und sein boshafter Blick bohrte sich ihr geradezu spürbar in den Rücken.
    Michelle wollte um Hilfe rufen, doch sie brachte lediglich ein Krächzen heraus. Die Fenster der Häuser, an denen sie wie ein Blitz vorbeischoss, waren dunkel, die Leute schliefen und konnten nicht ahnen, was sich hier unmittelbar vor ihren Fenstern abspielte.
    Die Bestie spielte mit ihr Fangen. Erbarmungslos. Wie die Katze mit der Maus.
    Michelle rannte wie besinnungslos.
    Das Glas einer Laterne neben ihr zerbarst, und sie stürzte im Dunkeln zu Boden. Sie hatte keine Gelegenheit mehr, aufzustehen, denn die bedrohliche Gestalt war innerhalb von Sekunden bei ihr. Sie hätte auch nicht mehr weitergekonnt, so erschöpft, wie sie war. Da aber blieb ihr Blick an einem

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