Totenreise
fantasievoll als praktisch waren.
»Sei nicht voreilig«, verteidigte sich Dominique, »diesmal habe ich stundenlang geschuftet, und was herausgekommen ist, das ist es wirklich wert. Außerdem bekommst du es gratis.«
Dominique reichte ihm eine weiße Pappe über den Tisch, mit einer Tabelle darauf, die bereits mit Daten und Rubriken versehen war. Pascal runzelte die Stirn: »Was soll das sein?«
»Ich habe mir eine Strategie zum Anbaggern ausgedacht.« Dominique grinste. »Auf der vertikalen Tabellenachse befinden sich die Kategorien von Mädchen, die ich analysiert habe: A, die Streberin; B, die Sportliche; C, die Umweltbewusste;
D, die Langweilerin; E, scharfe Tussi; F, Yuppie … und auf der horizontalen Achse die unterschiedlichen Typen von Jungs, auf die Mädchen im Allgemeinen stehen: I, der Anführer; II, der coole Typ; III, der Wohlerzogene; IV, der Abenteurer; V, der Angeber … Ich habe sie mit römischen Zahlen versehen, damit die Kästchen nicht mit denen verwechselt werden, die für die Benotung vorgesehen sind.«
Pascal brach in schallendes Gelächter aus.
»Du bist einzigartig, Dominique! Du hast deinen eigenen Rekord im Rumspinnen gebrochen! Damit hast du dich ernsthaft beschäftigt?«
Dominique stimmte in das Gelächter ein: »Okay, ich weiß, dass das ein bisschen daneben klingt, aber warte mal die Ergebnisse ab.«
»Du hast dich wirklich dahintergeklemmt.«
Pascal klopfte dem Freund auf die Schulter.
»Ja, es hat sich gelohnt. Das wird das Anbaggern revolutionieren, auch wenn es dir im Augenblick noch seltsam vorkommt …«
Dominique ließ sich weiter ausführlich über seine bahnbrechende Erfindung aus, was Pascals Gedanken dann doch wieder abschweifen ließ … ins Reich der Toten … Er sah die Truhe der Familie Marceaux plötzlich vor sich, hörte den Deckel über sich zufallen, spürte das heftige Drehen und Wanken des alten Möbels. Die Dunkle Pforte …
»Ob du mich verstanden hast«, wiederholte Dominique jetzt und runzelte die Stirn.
»Ja, klar«, erwiderte Pascal rasch und straffte sich. »Also erklär mir, wie deine … ›Strategietabelle‹ funktioniert.«
»Wenn du das Mädchen bereits eingestuft hast, zum Beispiel bei A: Streberin«, die beiden beugten sich über die Tabelle, während Dominique seinen Zeigefinger auf den betreffenden Buchstaben legte, »fährst du die ganze Reihe mit den Kästchen entlang und schaust dir die Punktzahl an, die dieser Mädchentyp bei den Profilen der Jungs erzielt, bis du die höchste erreicht hast. In diesem Fall ist die höchste Punktzahl die des romantischen Jungen. Du musst also versuchen, wie ein Romantiker zu erscheinen, wenn du sie anbaggern willst.«
»Verstehe.«
Dominique wollte seinen Freund gerade überreden, mit der Tabelle zu »experimentieren«, wie er es nannte, als es klingelte.
»Das sind bestimmt Michelle und Mathieu«, bemerkte Pascal. »Sie haben gestern gesagt, dass sie vielleicht vorbeikommen, weil ich allein bin.«
»Bestens, aber wir müssen deine Teilnahme an diesem Projekt festmachen, ja?«
Schon waren die beiden anderen oben. Mathieu, ein dunkelhaariger, großer Junge mit breiten Schultern, ging in die gleiche Klasse wie Pascal und Dominique; er hatte sich vor Kurzem bei seinen besten Freunden als schwul geoutet. Pascal wusste, dass Michelle sich schon unbändig darauf freute, die Gesichter zu sehen, wenn das allgemein publik würde. Mathieu war ein absoluter Mädchenschwarm.
»Hallo, wie geht’s«, grüßte Michelle. »Soso, ihr beschäftigt euch also mit der berühmten ›Dominique’schen Tafel‹.«
Dominique gefiel diese spontane Namensgebung. »Dominique’sche Tafel« klang gut. Mathieu wollte natürlich gleich wissen, worum es ging, und zähneknirschend, weil er noch in der Anfangsphase war, weihte Dominique ihn ebenfalls in sein Projekt ein.
»Du musst auch eine für Schwule machen«, schlug Mathieu ihm lachend vor. »Damit könntest du reich werden.«
»Ihr braucht das nicht!«, meinte Dominique. »Das schwierige Element in jeder Beziehung ist die Frau. Zwischen Typen ist alles viel einfacher, nehme ich an.«
In diesem Moment klingelte Michelles Handy. Sie zog es aus der Tasche und ging ran. Kurz darauf wandte sie sich mit höchst erstaunter Miene ihren Freunden zu.
»Ihr werdet es nicht glauben …«, platzte sie heraus. »Das war Jules. In der Schule ist ein Lehrer ermordet worden.«
11
ES WAR NUN nicht mehr weit bis Mitternacht – an diesem Sonntag. Daphne würde ihren ganzen Mut
Weitere Kostenlose Bücher