Das dritte Leben
1
Die Treiber kamen durch die Schlucht den Hügel hinunter. Man konnte ihr Rufen jetzt deutlich hören. Die Jäger standen und warteten. Letzter Schein der Sonne fiel auf das bunte Herbstlaub, erlosch. Grau senkte sich die Dämmerung in die Täler. Wind erhob sich, Wolken zogen in schnellem Flug dahin.
Als der Zwölfender aus dem Gehölz brach, stand Matthias Wiegand sekundenlang gebannt beim Anblick des Tieres.
Der Hirsch verhielt vor einem niederen Birkenhain. Scharf hob sich sein dunkler muskulöser Leib von dem gefleckten Weiß der Stämme ab. Der Atem quoll stoßweise wie Dampf aus seinen geblähten Nüstern. Die großen, schwarzfeuchten Augen gingen in die Runde, das Geweih fetzte die Luft, dann setzte er mit langen Sprüngen auf den Waldrand zu. Wiegand hob die Büchse, im gleichen Augenblick brach von rechts her ein einzelner Schuß die Stille wie ein Peitschenhieb.
Der Hirsch stolperte, sein Hals bog sich, sein Kopf zuckte hoch. In einer Wolke von Staub und Laub stürzte er zu Boden. Wiegand senkte die Büchse. Er blickte nach rechts, woher der Schuß gekommen war.
Irene sah ihn lächelnd an. Auch sie senkte ihr Jagdgewehr, öffnete mit geübtem Griff den Verschluß der Waffe, ließ die leere Patronenhülse ins Gras fallen, schnappte das Schloß wieder zu. Mit dem Daumen schnippte sie den Sicherungsflügel herum und warf die Büchse über die Schulter.
Nach dem Schuß war das heisere Rufen der Treiber verstummt. Es wurde jetzt schnell dunkel. Die Jäger liefen zu dem Hirsch hinüber, die Treiber kamen prasselnd durch das Unterholz dazu. Wiegand knöpfte seine Brusttasche auf, zog die Zigaretten heraus, zündete sich eine an. Er merkte, daß seine Hand zitterte.
Irene hatte es absichtlich getan. Sie wußte, daß ihm der Hirsch gehörte, aber sie hatte geschossen. Er sah seiner Frau nach, wie sie mit diesen selbstbewußten Schritten zu dem toten Wild ging. Sie war schlank, hoch gewachsen, mit ihren einsachtundsiebzig fast so groß wie er. Ihr blondes Haar, das sie unter der Jagdkappe aufgesteckt trug, leuchtete wie Messing in der fahlen Dämmerung. Etwas Provozierendes lag in dem Gleiten ihrer Hüften.
Wenn er sie so sah, konnte er immer nur an eines denken: an diesen schlanken, glatten Leib unter seinen Händen – in der Nacht.
Die anderen Jagdgäste liefen hinter Irene her, eifrig, wie eine Meute Hunde auf der Fährte eines Rehs. Wiegand schnippte ärgerlich die Zigarette weg. Irene war gewiß kein schutzloses Reh. Er ging hinterher, hörte, wie sie Irene lautstark lobten, die gerade neben dem Hirsch niederkniete.
Wiegand blickte auf ihre Schultern herunter; schmal und zerbrechlich wirkten sie. Aber Irene war zäher als irgendeiner der Männer hier in der Runde.
Man sah ihr die drei Kinder nicht an, gewiß nicht, daß ihr ältester Sohn schon sechzehn war. Sie wirkte wie eine Frau Mitte der Zwanzig. Aber vor vier Wochen hatte sie ihren dreiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Und Karl von Bodenheim, Wiegands Schwiegervater, hatte ihn mit einem Augenzwinkern gefragt: »Nun, mein lieber Schwiegersohn, hast du deine Wahl bereut?« Und er hatte lächelnd geantwortet: »Mein lieber Schwiegerpapa, welcher Mann würde wohl eine solche Wahl je bereuen?«
Wiegand wandte sich mit einem Ruck ab. »Wo ist der Wagen?« fragte er seinen Jagdaufseher.
Michels tippte den Finger an die Mütze. »Steht gleich hinter der Biegung, Herr Professor. Im Hohlweg.«
»Lassen Sie den Hirsch runterschaffen.«
Die Treiber schleppten den toten Hirsch den Hang hinunter, mit viel Geschrei, gutmütigen Scherzworten und zweideutigen Bemerkungen über Frauen im allgemeinen und Frauen auf der Jagd im besonderen. Es lag nichts Respektloses in ihren Reden, aber es ärgerte Wiegand trotzdem. Schnell ging er zum Hohlweg hinunter. Hinter sich hörte er die dunkle Stimme Irenes, ihr zufriedenes Lachen.
Am Wagen schob sie ihre Hand unter seinen Arm. »Entschuldige«, sagte sie sanft.
»Aber was denn?« fragte er.
»Weil ich geschossen habe. Ich sah, daß du zu lange zögertest. Er wäre in den Wald entkommen.« Sie sah ihn mit großen, unschuldigen Augen an. »Und wir sind doch extra seinetwegen hergekommen. Überleg doch, ein Zwölfender, Matthias!«
»Nicht ein Zwölfender, sondern mein Zwölfender.« Er hätte sich im gleichen Moment am liebsten die Zunge abgebissen.
Irene begann zu lachen, dieses leise, verführerische und gleichzeitig so überhebliche Lachen. »Mein kleiner Matthias –.« Sie streichelte zärtlich seine
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