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Totenreise

Totenreise

Titel: Totenreise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lozano Garbala
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dicken Holzknüppel hängen, der ganz in der Nähe auf dem Boden lag. Mit letzter Kraft angelte sie danach, packte ihn und schwang ihn mit grimmiger Miene. Sie würde sich bis zum Schluss wehren.
    Ihr Gegner, stellte sie fest, strömte einen stechenden, unangenehmen Geruch aus. Übelkeit stieg in ihr hoch, sie krümmte sich zusammen.
    Es war eine blitzschnelle Bewegung. Michelle kam nicht dazu, sie abzuwehren; die Klaue der Gestalt schloss sich wie ein Fangeisen um ihr Handgelenk und verdrehte ihren Arm, bis sie mit schmerzerfülltem Stöhnen den Holzstock fallen ließ. Dieses Wesen hatte eine ungeheure Kraft.
    Die Kreatur lächelte und zeigte ihre Fangzähne. Genießerisch streichelte sie Michelles zartes Gesicht mit ihren kalten Fingern.
    ***
    Ihr Körper kroch gegen ihren Willen weiter, angezogen von den Augen des Erhängten, von den Wurzeln des abgestorbenen Baumes.
    »Ich bin Daphne, die Hellseherin!«, rief sie. »Ich gehöre zum Reich der Lebenden und ich bin gekommen, um von der Vierten Macht Gebrauch zu machen!«
    Der Leichnam reagierte nicht, doch die Wahrsagerin bemerkte, dass die leichte Pendelbewegung seines Körpers schwächer wurde. Daphne hatte die heilige Kraft erwähnt, die sich auf die Vereinigung der Lebenden Seher bezog, der sie angehörte und die seit Menschengedenken etwas bewahrte: Jeder Verstorbene, dem ein Seher, der sich auf dieses Gesetz berief, eine Frage stellte, war verpflichtet, wahrheitsgemäß zu antworten.
    »Erhängter!« Daphne versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, als sie der grauenvollen Gestalt näher und näher kam, sodass sie deren faulen Atem schon riechen konnte. »Ich stelle dir eine Frage!«
    Der Leichnam knurrte verärgert. Das Pendeln nahm wieder zu.
    Die Wahrsagerin, die ihr Amulett umklammert hielt, stellte ihre Frage: »Was geht in dieser Stadt vor sich?«
    »Viele Dinge«, antwortete der Erhängte mit krächzender Stimme.
    »Verstoße nicht gegen die Vierte Macht!«, warnte sie ihn. »Ich stelle dir die Frage noch einmal, Toter!«
    »Daphne, Daphne … wir werden uns an dich erinnern …«
    Der Mund des Leichnams bewegte seine rissigen Lippen. Aus dem Baumstamm erklangen weitere Stimmen; sie riefen den Namen der Wahrsagerin im Chor, mit einem ungeduldigen und drängenden Tonfall, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Doch sie ließ sich nicht einschüchtern und stellte ihre Frage erneut: »Toter, etwas, das unsere beiden Welten verbindet, treibt sein Unwesen in Paris. Was ist es?«
     
    Der Erhängte schrie auf und hielt in seinen pendelnden Bewegungen inne. Seine Augen verloren ihre magische Kraft. Während Daphne ihm lauschte, kämpfte sie weiter gegen die unsichtbaren Tentakel des toten Baums an, die sie noch immer über den Boden zu dem unförmigen Stamm ziehen wollten – der sich von Körperresten nährte. Wenn es ihnen gelingen würde, sie nah genug herbeizulocken, würde Daphne, zersetzt in giftige Sekrete, innerhalb von Sekunden verschwunden sein.
    »Die Dunkle Pforte, Daphne«, sagte der Erhängte schließlich, der es nicht wagte, der Vierten Macht zu trotzen, »sie hat sich erneut geöffnet. Ein Sterblicher, ein Wanderer zwischen den Welten, hat die Pforte zu unserem Reich durchschritten …«
    Daphne stockte der Atem. Vor ihrem geistigen Auge erschien der Junge, Pascal, dem sie vor ein paar Tagen geweissagt hatte. Alles bekam langsam einen Sinn. Die Dunkle Pforte hatte sich geöffnet, und der Wanderer – es war jener spanische Junge! Sie hätte es wissen müssen.
    »Weißt du, wer es ist?«, fragte der Erhängte. »Sag es mir.«
    Daphne ging nicht in diese zweifache Falle. Wenn sie die Unterhaltung mit dem Toten fortsetzte, würde sie unweigerlich in die Fänge des Baums geraten, und zudem durfte sie es nicht zulassen, dass der Erhängte die Information dazu benutzte, um mit dem Bösen zu verhandeln.
    Die Existenz eines Wanderers zwischen den Welten war von unschätzbarem Wert für alle Reiche und deren Lebewesen. Und für die Toten.
    Sie machte sich daran, die Trance zu beenden, damit ihr Geist wieder ins Reich der Lebenden zurückkehren konnte.

12
    DIE FRAU IM Spiegel des Badezimmers. Ihre Hände griffen nach ihm.
    »Hilf mir …«, bettelte die Frau im Spiegel noch immer. »Du kannst es, du bist der Wanderer …«
    Pascal hing zur Hälfte in der Dunkelheit, während er sich mit aller Kraft an den Spiegelrahmen klammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er war nicht gewillt, seine eigene Wirklichkeit zu

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