Totenseelen
tun und kaum Zeit für Tratsch hatte. Das Beiläufige der Frage wusste er zu schätzen, obwohl sicher die Vermutungen schon hoch ins Kraut geschossen waren. Der Streifenwagen vor dem Schlesinger-Haus, zwei Stunden später auffallend zivile Polizisten und ein Wachtmeister, der mit allerhand Gerät hantierte, um ein Baggerloch abzudecken. Der eine sah dies, der andere jenes, und zusammen versuchte man, sich einen Reim darauf zu machen.
»Ich kann noch nicht darüber reden, Franz. Vielleicht wissen wir morgen mehr.«
»Na klar.« Franz nickte verständnisvoll. Er seinerseits würde es auch zu schätzen wissen, dass die Polizei schwieg, falls er, was der Himmel verhüten möge, mit ihr zu tun hatte.
Pieplow bestellte ein Bier und wandte sich nach links, wo, möglichst weit weg von der lärmenden Runde, Rieke Voss vor einem Glas Wein saß. Sie hatte sich zurechtgemacht, stellte er fest. Die Haare gekämmt, sich geschminkt. Einen Hauch Graublau auf den Augenlidern, viel kräftiges Rot auf den Lippen. Eine Frau Ende fünfzig, vielleicht sogar Anfang sechzig, an der alles sehr modern wirkte. Das kurze dunkle Haar, der schwarze Pullover mit dem asymmetrischen Schnitt und den breiten Ärmelaufschlägen. Der auffällige Schmuck. Große Ohrclips, breite, schlichte Ringe an Händen, die nicht aussahen, als hätten sie jemals schwere Arbeit getan. Sie war ihm sympathisch, aber seiner Meinung nach überhaupt nicht der Typ, der ein Sommerhaus modernisierte oder es im Winter alleine auf der Insel aushielt.
»Geht’s besser?«, fragte er und nahm ihr gegenüber Platz.
Sie nickte. »Viel besser. Mein Zimmer ist schön. Gemütlich und wohl auch hell, wenn morgen früh die Sonne aufgeht. Das wird gut für die Seele sein. Und bis dahin hilft gegen die Albträume hoffentlich dies hier.« Sie hob ihr Glas, stellte es wieder ab, ohne zu trinken, überlegte es sich dann anders und setzte es zu einem großen Schluck an.
Pieplow hatte so eine Vermutung, dass es nicht das erste Glas war, mit dem sie mögliche Albträume in Schach halten wollte.
Er sah, wie sie sich mit einem kleinen Ruck aufrecht hinsetzte, ganz so, als habe sie beschlossen, sich zusammenzunehmen und zu tun, was getan werden musste.
»Sie wollen mir sicher ein paar Fragen stellen. Also fangen Sie an«, sagte sie und klang dabei ein wenig theatralisch.
Es konnte nicht schaden, das Wichtigste aufzuschreiben. Name, Vorname, Beruf, Geburts- und Wohnort. Ganz amtlich. Pieplow zückte seinen Block, auch wenn er nicht wusste, ob sich irgendjemand für das interessieren würde, was er zu berichten hatte.
Dass sie einundsechzig war, erfuhr er, in Oldenburg geboren und nie verheiratet. Dass sie seit vierzig Jahren in Hamburg lebte. Allein. Dass Hiddensee der Ort war, an den sie sich träumte, wenn alles zu viel und zu laut wurde. Die Arbeit, die Menschen, die Stadt.
»Deswegen habe ich noch einmal versucht, alle Schlesingers unter einen Hut zu bekommen. Meine Brüder, die Cousins und Cousinen. Alle haben Sechstel oder Neuntel oder Zwölftel geerbt, und am Ende gehörte es niemand. Kümmern will sich keiner, aber hergeben auch nicht. Sie sehen ja, was dabei herauskommt.«
Pieplow nickte. Ein trauriges, beschädigtes Haus, dem ein wenig Vernunft gutgetan hätte.
Wann es gebaut wurde, fragte er mehr der Vollständigkeit halber. Verdutzt nahm er zur Kenntnis, dass sie ohne zu zögern »1939« sagte. »Im Sommer vor Kriegsbeginn ist es fertig geworden, das weiß ich genau.« Sie äußerte dies mit der gleichen Entschiedenheit, mit der sie wenige Stunden zuvor behauptet hatte, nichts über die Bauzeit zu wissen. »Und umgebaut wurde es auch nie, das zeigen die Pläne. Es sei denn, man hat es genauso wieder hergerichtet, wie es vorher war. Aber wer macht denn so was?«
Gute Frage, dachte Pieplow, obwohl ihn weit mehr interessiert hätte, wer, mit oder ohne Umbau, eine Leiche ins Fundament zementiert hatte.
Vor Sonnenaufgang zeigte das Thermometer am Küchenfenster keine zehn Grad, aber das herdfeuerrote Glühen über dem Horizont kündigte einen warmen, fast windstillen Tag an.
Pieplow trödelte herum, das Telefon immer in Hörweite, für den Fall, dass Böhm ihn an den Hafen oder sonstwohin zitieren wollte.
Er könnte Kästner abholen, überlegte er, und ihn im Dienstzimmer absetzen. Schreibkram gab es genug, und es machte sich immer gut, wenn die Polizei für die Bürger erreichbar war. Dagegen sprach, dass er für die fünfzehn Kilometer von Kloster nach Neuendorf und
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