Totenseelen
Eine Zustimmung der Eigentümer sei nicht nötig, denn es sehe alles doch sehr nach einem Verbrechen aus. Da müsste nun mal das Notwendige getan werden, und das sei in diesem Fall zuerst einmal die Bergung des Toten. »Am besten, Sie gehen zurück in Ihre Pension. Wir werden Sie auf dem Laufenden halten, aber jetzt müssen wir ungestört arbeiten können. Wenn sich etwas Neues ergibt, melden wir uns bei Ihnen.«
»Das übernehmen Sie, Pieplow«, ordnete er an, sobald Rieke Voss außer Hörweite war. »Ich hab keinen Nerv für hysterische Weiber.«
Na klar, dachte Pieplow vergnatzt, aber mir werden sie aufs Auge gedrückt wie alles andere auch, wozu die Herren Kriminalisten keine Lust haben. Bevor der Dorfpolizist dumm in der Gegend herumsteht, kann er sich ja mit Botengängen und Kaffeekochen nützlich machen. Oder eben mit der Besänftigung hysterischer Weiber.
Er wünschte sich seinen Inselalltag zurück, in dem es um Ruhestörung und verbotene Lagerfeuer oder um geklaute Räder und verlorene Geldbörsen ging, und er von niemand, nicht einmal von Kästner, in der Gegend herumkommandiert wurde.
Von Pieplows Wut bekamen die Neugierigen nichts mit, die sich am Tor in der Hainbuchenhecke drängelten. Sie rangelten um die besten Plätze, reckten die Hälse und knipsten mit allem, womit sich fotografieren ließ. Schwere schwarze Objektive zielten auf Haus, Zelt und Graben. Zigarettenschachtelgroße Digitalkameras und jede Menge Mobiltelefone richteten sich auf Spurensicherer und Polizisten. Mochte der Kuckuck wissen, was den Leuten das Foto eines Polizeiobermeisters brachte, der mit verdrießlichem Gesicht, die Arme vor der Brust verschränkt, am Rande des Getümmels stand.
Mittendrin wuselte ein kleiner drahtiger Mann in senfgelbem Cordanzug hin und her. Ein weißer Haarkranz stand ihm wie elektrisiert vom Kopf ab, und als er sich umwandte, wusste Pieplow, an wen ihn der Mann erinnerte, dessen Stimme im Trubel unterging. Einstein. Unter buschigen Brauen braune Augen, die überall zugleich zu sein schienen. Ein graumelierter Schnauzer. Obwohl die Tabakspfeife fehlte, war die Ähnlichkeit so frappierend, dass es Pieplow nicht überraschte, als jemand aus dem Graben heraus »Herr Professor?« rief und der Weißhaarige sich sofort dorthin umdrehte.
»Sieht aus wie Einstein, oder?« Pieplow blickte zur Seite und entdeckte in Maleks Gesicht die Spur eines Lächelns. »Heißt aber Dahlke. Professor Dahlke, Gerichtsmedizin Greifswald. Wenn es stimmt, was man sich über ihn erzählt, sagt er uns in einer Woche, was der Tote zuletzt gedacht hat.«
Dazu musste der Professor an das Skelett heran, und wie er das bewerkstelligen wollte, trug er in einer improvisierten Besprechung rund um den altersschwachen Gartentisch neben dem Haus vor. Die Klappstühle reichten gerade für die höheren Dienstgrade. Für Kästner wurde ein Küchenhocker herangeschleppt, Malek und Pieplow mussten stehen.
»Ist es nicht herrlich hier?« Der Professor hob die ausgebreiteten Arme in die milde Septemberluft. »Dieser Himmel! Dieses Licht! Ein Jammer, dass wir arbeiten müssen!«
Pieplow und Malek erwiderten das Lächeln, mit dem Professor Dahlke in die Runde sah.
Staatsanwältin Sander-Einberg verzog keine Miene. Böhm trommelte mit den Fingerkuppen auf den schorfigen Lack des Gartentisches.
»Mit welchen Erkenntnissen rechnen Sie, Herr Professor?« Frau Sander-Einberg sprach so altmodisch wie sie aussah. »Es wird sicher schwierig, nach so langer Zeit noch ein Verbrechen nachzuweisen.«
Es war, als habe es nur diese Stichworte gebraucht, um den Professor aufblühen zu lassen.
Mit rosigen Wangen, den elektrisierten Haarkranz von der Herbstsonne beschienen, stürzte er sich in sein Element. »Als Gerichtsmediziner rechnen wir immer mit allem, meine Liebe! Man weiß schließlich nie, was man findet, wenn man zu suchen beginnt. Aber wenn wir es hier tatsächlich mit einem sechzig, siebzig Jahre alten Skelett zu tun haben sollten, dürfte es kein Problem sein, zu Erkenntnissen zu kommen, über die der Laie oft staunt. Denn Knochen vergessen nicht, verstehen Sie? Sie sagen nach Jahrhunderten, ach was, Jahrtausenden noch aus, wenn wir sie nur gründlich genug befragen.«
Böhm trommelte heftiger.
Sander-Einberg schob ihren braunen Kostümärmel über ihre Armbanduhr zurück. Forensische Freiluftvorlesungen sah ihr Dienstplan nicht vor. »Im vorliegenden Fall …«
»Gewiss, ja, der vorliegende Fall. Was lässt sich dazu bereits sagen?« Der
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