Totensonntag: Ein Westfalen-Krimi (Westfalen-Krimis) (German Edition)
brach der Angreifer durch die äußeren Zweige des Buschwerkes und baute sich wie ein Berg vor ihm auf. Obwohl Winter von der Taschenlampe geblendet war, konnte er die breiten Schultern seines Verfolgers und dessen zu allem entschlossenen, brutalen Gesichtsausdruck erahnen. Ganz nebenbei nahm Winter zur Kenntnis, dass dem Mann das rechte Ohr fehlte. Währenddessen klingelte das Handy immer weiter.
Auf einmal war ein dumpfer Schlag zu hören. Die Taschenlampe fiel zu Boden, und der kräftige Mann vor ihm wankte. Wieder dieses Angriffsgebrüll, wieder ein Schlaggeräusch. Wieder sackte der Getroffene weiter in die Knie. Und plötzlich löste sich auch Winters Schockstarre, als er ganz nah bei sich Künnemeiers Triumphgeschrei hörte. Im Dämmerlicht sah er den alten Mann, der wie ein Steinzeitkrieger seine Keule mit beiden Fäusten umklammert hielt und immer weiter zuschlug.
Doch der Breitschultrige schützte sich mit erhobenem Arm vor weiteren Schlägen und kam langsam wieder hoch. Beim nächsten Schlag bekam er den Knüppel zu fassen und riss ihn Künnemeier aus den Händen.
»Hau ab!«, schrie Winter, der die veränderten Machtverhältnisse schnell erfasste.
Der Schläger sprang auf Künnemeier zu und holte zu einem gewaltigen Faustschlag aus, doch durch einen in vielen Schützenfestschlägereien antrainierten Reflex gelang es Künnemeier, seinen Kopf so weit zur Seite zu drehen, dass der Schlag ihn nur streifte. Dennoch stürzte er zu Boden und blieb liegen.
Winter nutzte den Moment, um hinaus auf den Friedhof zu laufen und sich hinter dem größten Grabstein in Deckung zu bringen. Eine sinnlose Aktion, wie er sofort erkannte. Denn der Einohrige schaute nur kurz auf den bewegungslos daliegenden Künnemeier herunter, nahm dann seine Taschenlampe wieder an sich und ließ deren Licht suchend durch die Umgebung zucken. Dieser Mann war eine Kampfmaschine, die sich durch nichts beirren ließ, stellte Winter resigniert fest und gab innerlich seinen Widerstand auf. Denn nun hörte er das Klicken eines Springmessers und wusste, dass ihm keine Chance mehr blieb. Der Kerl würde einen Grabstein nach dem anderen absuchen und ihn über kurz oder lang finden.
73
Das Brüllen des Motors zerrte an ihren Nerven, und plötzlich packte Alicija eine enorme Wut auf Kloppenburg. Es war doch egal, ob er die Leichen einbuddelte oder nicht. Früher oder später würden die beiden Männer sowieso gefunden.
Sie mussten weg – und dieser Kindskopf spielte mit seinem Bagger. Ihre Wut verwandelte sich in Frust. Kein einziges Mal in ihrem beschissenen Leben hatte sie Glück gehabt. Alicija hatte alles falsch gemacht. Sie hätte niemals zu diesem Mann zurückkehren dürfen. Das war ein großer Fehler gewesen. Sie konnte Kloppenburg genauso wenig vertrauen wie jedem anderen Kerl.
Alicija begann sich über ihre Schwäche zu ärgern, über ihr Bedürfnis, das alles nicht allein machen zu müssen. Sie hätte sich mehr zutrauen sollen, hätte ihren Plan alleine durchziehen sollen, ohne jemanden mit ins Boot zu nehmen.
Jetzt hatte sie gar nichts. Hatzfeld hatte sie einmal mehr betrogen, er hatte das geforderte Geld nicht mitgebracht, und von ihm würde sie auch nichts mehr bekommen. Mit großer Sicherheit war er schon tot. Erschlagen von Kloppenburg. Und wenn doch noch etwas Leben in ihm gewesen war, dann würde er jetzt unter den Tonnen von Sand ersticken.
Und Kloppenburg? Würde er zu ihr stehen? Würde er ihr mit Achtung begegnen, oder würde er sie nun zu seiner Gespielin machen, bis er ihrer irgendwann überdrüssig wäre? So war es bisher immer gewesen. Dummerweise wusste dieser Mann auch noch zu viel von ihr. Er konnte sie nicht nur irgendwann verstoßen, er konnte sie auch erpressen.
Klar, Kloppenburg hatte sich an Teilen ihrer Pläne beteiligt, er hatte die Telefonanrufe getätigt, um Hatzfeld zu erpressen. Er hatte die Männer in die Sandgrube gelockt, er hatte Hatzfeld auf dem Gewissen. Aber was wäre, wenn es hart auf hart käme? Kloppenburg war ein honoriger Paderborner Bürger, sie eine ukrainische Prostituierte. Wem würde man glauben, wenn sie erwischt würden und Kloppenburg ihr die ganze Schuld zuwies?
Alicija hatte so viel Enttäuschungen in ihrem Leben erlebt, war so oft misshandelt und betrogen worden, dass sie keinem mehr trauen konnte – auch Kloppenburg nicht, obwohl er ihr gegenüber sogar das Wort Liebe in den Mund genommen hatte. Ihre schlimmen Erfahrungen mit Männern hatten sie zu einer harten, misstrauischen
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