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Das unsichtbare Grauen

Das unsichtbare Grauen

Titel: Das unsichtbare Grauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Spencer Spratt
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»Hören Sie, Direktor, die Sache ist entschieden. Die Hinrichtung erfolgt morgen früh. Ende!« Der Gefängnisdirektor legte den Hörer auf und trat zum Fenster seines Büros. Von dort konnte er auf den kleinen Innenhof sehen. Dieser »Todeshof« war von den Zellen aus nicht einzusehen. Man wollte den Häftlingen den Anblick ersparen, der sich hier am Vortag einer Hinrichtung bot. Scharfrichter, Assistent und Gehilfe waren am Werk, den Inhalt des kleinen und schmutziggrauen Lieferwagens auszuladen; Gestänge und Tisch der Guillotine, des kiloschweren, scharfen Fallbeils, das der Scharfrichter in einem schwarzen Lederfutteral auf blutrotem Samt verwahrte und erst kurz vor der Hinrichtung ins Führungsseil einhängen würde.
      Augenblicklich richtete der Scharfrichter mit seinen beiden Helfern das Gestänge auf, in dem das Fallbeil emporgezogen und auf einen Hebeldruck herabstürzen würde, den Hals des Delinquenten glatt durchtrennend.
      Der Direktor wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu.
      Er sah daher den jungen Gefängnisbeamten in der Uniform eines Inspektors nicht, der soeben den »Todeshof«
      betrat und sich grüßend zum Scharfrichter wandte: »Guten Morgen, Monsieur. Sie haben, wie ich sehe, ausgeladen.
      Erlauben Sie, daß wir Ihren Wagen woanders parken. Er darf hier nicht stehen.«
      »Wieder mal 'ne neue Vorschrift, was?« brummte der Scharfrichter. »Aber jetzt müssen Sie schon warten, bis mein Assistent Zeit hat, die Karre wegzufahren.«
      »Bitte bemühen Sie sich nicht, Monsieur. Sie sind beschäftigt. Ich mache das schon.«
      »Der Schlüssel steckt.« Der Scharfrichter wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Er beachtete den freundlichen jungen Inspektor nicht weiter, der sich ans Steuer des Lieferwagens setzte und ihn aus dem »Todeshof« in den Vorhof des Gefängnisses lenkte.
      Zur gleichen Zeit war es im »Todesflügel« des Gefängnisses still. Alle Zellen standen leer. Mit Ausnahme der einen, in der der Mädchenmörder Junot auf seine Hinrichtung wartete. Aber noch wußte der Verurteilte nichts von der Ablehnung des Gnadengesuches. Noch hoffte er, mit »lebenslänglich« davonzukommen. Seit Jahren hatte in Frankreich keine Hinrichtung mehr stattgefunden. Seit Jahren waren alle Todesurteile in lebenslange Strafen umgewandelt worden.
      Junot lag auf seinem Bett und döste vor sich hin. Er dachte daran, daß »lebenslänglich« schlimmstenfalls 20 Jahre bedeutete. Dann würde er wieder frei sein, noch nicht ganz 50. Ein halbes Leben lang dann immer noch vor ihm. Oder wenigstens fast.
      War da ein Geräusch gewesen? Junot richtete sich auf. Ja! Jemand hatte draußen den Schlüssel im Schloß gedreht und die Riegel zurückgezogen. Jetzt wurde die Zellentür spaltbreit geöffnet, und eine Stimme flüsterte:»Junot, hörst du mich?«
      »Ja, was ist?« flüsterte Pierre Junot unwillkürlich zurück.
      »Stell jetzt keine Fragen«, reagierte die Stimme leise. »Zieh deine Schuhe aus, damit man dich nicht hört! Komm raus aus der Zelle, geh nach links den Korridor entlang, durch die Eisentür, die Treppe runter in den Hof. Setz dich sofort in den kleinen Lieferwagen! Und wundere dich über nichts!«
      Pierre Junot nickte und zog die Schuhe aus. Das schönste »lebenslänglich« taugte nichts, gemessen an der Freiheit.
      Er drückte die Zellentür auf und wandte sich nach links. Vor ihm tat sich die schmale Eisentür zur Wendeltreppe auf, die es abwärts ging. Auch die Tür zum Hof öffnete sich wie von unsichtbarer Hand, und die rechte Tür des schmutziggrauen Lieferwagens ebenfalls. Kein Mensch war zu sehen.
      »He, wo sind Sie denn?« fragte Junot verblüfft. »Ja aber...« Er schwieg entgeistert. Das Sitzpolster des Fahrersitzes wölbte sich nach unten, als würde es durch das Körpergewicht des Fahrers belastet. Die linke Tür schloß sich. Der Motor startete, das Steuer bewegte sich. Der Wagen fuhr an.
      Junot wollte schreien. Aber der Schrei blieb ihm in der Kehle stecken. Das große Tor des Gefängnisses kam auf sie zu. Ein Beamter trat ihnen entgegen. Der Wagen hielt.
      Der Beamte beugte sich zum linken Wagenfenster herab. Eine Stimme sagte: »öffnen Sie für den Wagen des Scharfrichters!«
      Fassungslos sah Junot plötzlich auf dem Fahrersitz einen jungen Mann in Arbeitskleidung, der ungeduldig aufs Steuer mit den Fingern trommelte.
      »Ja, Monsieur, sofort«, beeilte sich der Beamte. Dann schwang das große Tor in der hohen Gefängnismauer auf, und

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