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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brian Hodge
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darstellte.
    Blind oder nicht, über ihm wartete eine ganze Welt …
    In der es so viel zu lernen gab.
     
    Wie sollte er es tun, wenn der Augenblick gekommen war? Sollte er warten, bis das Bankett aufgelöst wurde und eine Flut aus Gratulanten den Mann des Jahres bestürmte? Das erschien ihm als beste Lösung – so käme er nah an ihn heran, könnte die Pistole ziehen, und niemand würde etwas merken, bis Mullavey fiel und sie ihr Urteil über ihn revidieren mussten.
    Er konnte jeden Superlativ, mit dem dieser Mann beschrieben worden war, zu seinem Vorteil nutzen; er war nur ein weiteres Brikett, das in das Feuer geworfen wurde, auf dem sein Hass schmorte. Justin begann zu lächeln, seine Rolle erneut zu spielen.
    Ein Teil von ihm hatte gehofft, dass er es nicht derart begierig tun würde.
    Es begann als leises, sanftes Stöhnen; erst als es zum dritten Mal ertönte, zog es die Aufmerksamkeit der anderen auf sich. Alle Augen, alle Ohren, richteten sich auf den Mann am Mikrofon, auf dessen plumpem und rötlichem Gesicht sich die Verärgerung breitmachte. Wer war so unhöflich, einen solchen Moment zu stören …
    Dann sah er nach rechts.
    Andrew Jackson Mullavey hatte sein Wasserglas nicht bis an die Lippen führen können, da zersprang es ihm auch schon in der Hand. Seine Augen wurden weiß. Er warf den Kopf in den Nacken und stöhnte ein letztes Mal, bevor er sich mit solcher Wucht nach hinten warf, dass ihm gewiss einige Wirbel gebrochen waren. Sein Schrei klang heiser und gequält, er war nur kurz, aber sehr, sehr intensiv … und er schien sich endlos zu wiederholen, als würde er seiner Seele hinterher hecheln.
    Die Banketthalle war in vollem Aufruhr, vierhundert Spießer saßen wie erstarrt auf ihren Stühlen; sie konnten nur mit gedrehtem Kopf und offenem Mund zusehen, siehst du auch, was ich sehe? Mullavey sprang taumelnd auf die Beine und schwankte, während die Frau zu seiner Rechten von ihm fortzukommen versuchte und ihn voll verwirrten Abscheus anstarrte. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit seiner Ehefrau, wie sie auf den Faxen, die April erhalten hatte, beschrieben wurde, und das war angemessen. Er sollte sterben, ohne dass jemand, der ihn liebte, an seiner Seite war.
    Er wurde festgehalten und der Tisch vor ihm leer gefegt, die restlichen Teller fielen zu Boden. Dort legten sie ihn hin und hielten ihn fest, als habe er eine Art Krampf. Er schlug um sich, und einer, der seinen Mund untersuchte, um zu verhindern, dass er seine Zunge verschluckte, verlor prompt seine Finger.
    Der Schrei setzte sich fort, schien gar nicht mehr aufhören zu wollen und übertönte jedes andere Geräusch. Justin stand ebenso wie einhundert andere da, er war eine Stimme, die in dem Aufruhr verloren ging, und falls irgendjemand hörte, dass er zu lachen begann, so zeigte er es nicht.
    Mullavey schwieg abrupt, und seine Gliedmaßen wurden schlaff. Justin drängte sich durch die Gaffer in Abendgarderobe nah genug heran, dass er die feine Blutspur sehen konnte, die aus Mullaveys linkem Nasenloch floss und das weiße Tischtuch verfärbte wie eine zerdrückte Rose.
    Nun wurden Hilferufe laut; ruft einen Krankenwagen, ist ein Arzt anwesend?
    Justin wandte sich ab, ging durch die Masse zum Ausgang, und jedes Gesicht, das sich ihm zuwandte, sah noch verwirrter aus, als es das seine erblickte. Freude, sogar Gelächter in so einer Situation? Er war ausnahmsweise froh darüber, der Welt ein Geheimnis vorenthalten zu können. Sollten sie sich doch wundern.
    Die Tür sah aus, als sei sie tausend Meilen entfernt, die er durch feindliches Territorium zurücklegen musste. Aber er schaffte es. Und ging weiter.
    Man hatte ihm natürlich einen Moment genommen, der von Rechts wegen ihm gehören sollte, den er in seinem Geist eintausend Mal durchgegangen war. Ihm war ein Opfer verweigert worden, das ihm eine grausame Strafe eingebracht hätte. Aber es war in Ordnung. Sicherlich war ein anderer, ein größerer Mann, in dieser Nacht am Werk gewesen. Ob dieser nun rechtschaffen oder korrupt war, wollte er nicht infrage stellen. Des einen Grausamkeit ist des anderen Güte.
    Wie bei den Menschen, war es bei den Göttern wohl ebenfalls so, vermutete er.
    Justin verließ das Hotel und ging auf die Poydras, wo er die Taxis ignorierte. Er lockerte seine schwarze Fliege und setzte seinen Hals der Nacht aus. Seine Schritte auf dem Bürgersteig wurden immer schneller, während die Gebäude um ihn herum in den Himmel ragten und die Farbe von Grabsteinen hatten.

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