Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
müssen.
»Dann ist also immer noch nicht geklärt, wie der Beschuldigte wieder aus dem Raum hinausgekommen ist«, bemerkte Krautter.
»Die Operative Fallanalyse arbeitet daran.«
»Warum hat er Rosenfeld eigentlich das Herz rausgerissen?«, fragte ich.
Richard ächzte.
»Und was sagt er zu den Steinchen?«, fragte Krautter.
»Steinchen?«, wiederholte Kallweit.
»Ja.« Meisner lehnte sich über den Tisch, der unter ihrem Gewicht wankte. »Es fanden sich Kiessteine im Blut und im offenen Leib. In Rosenfelds Ohrläppchen steckte eine Stecknadel. Verzeihung, Richard.« Sie grinste.
Er lächelte schmallippig. In der ganzen Stuttgarter Staatsanwaltschaft war bekannt, dass er empfindlich war, wenn es um Leichen ging. Deshalb hatte er sich in Verbrechen mit Zahlen verbissen. »Nun ja«, bemerkte er, um sich vor den Damen keine Blöße zu geben, »was der Kerle mit dem Herzen gemacht hat, ist unschwer zu erraten.«
Meisners Augen schwammen zu ihm hinüber. »So?«
»Er hat es zu Asche verbrannt, mit Wasser vermischt und getrunken oder einem anderen zu trinken gegeben.«
»Iiiih!«, riefen Kallweit und die junge Staatsanwältin.
»Ein alter Brauch aus Rumänien, aus Transsilvanien, genauer gesagt.«
»Ich bitte dich, Richard«, stöhnte Meisner mit großer Handbewegung, »erzähl du mir jetzt nicht, dass Rosenfeld ein Vampir war!«
»In Rumänien sagt man Strigoi. Vor fünf oder sechs Jahren habe ich in der Zeitung gelesen, dass einige Männer in einem Dorf in Rumänien ein Grab aufgemacht, dem Toten das Herz herausgeschnitten, es verbrannt und die Asche in Wasser gelöst getrunken und seinen Verwandten zu trinken gegeben haben.«
»Und wozu?«, fragte Meisner.
»Weil ein Strigoi Unglück und Tod über die Lebenden bringt.«
»Zum Glück sind wir aber in Deutschland«, bemerkte ich.
»Keine Chance, Lisa!«, antwortete Richard vergnügt. »Hier nennt man sie Nachzehrer. Man kennt sie seit Pestilenzzeiten. Da hat man erfahren, dass tote Leute, sonderlich tote Weibspersonen, im Grabe ein Schmätzen getrieben wie eine Sau …«
»Herr Dr. Weber«, mahnte Krautter. »Es sind Damen anwesend.« Damit konnte er mich nicht meinen. Es war die junge Staatsanwältin, die sein Lächeln erwiderte.
»Und bei solchen Schmätzern«, fuhr Richard fort, »hat die Pest gemeiniglich heftig zugenommen. So hat es ein gewisser Pfarrer Bohemus um sechzehnhundert festgestellt. Auch im Hexenhammer , 1486 , findet sich ein Bericht von einer Frau, die im Grab ihr Leichentuch verschlinge. Die Pest, heißt es, werde nicht eher enden, als bis die Hexe das Tuch ganz verschlungen habe. Man öffnete das Grab und fand das Tuch durch Mund und Hals schon halb verschlungen. Der Schulze schlug der Toten mit dem Schwert den Kopf ab, und von Stund an hörte die Pest auf.«
»Mir ist nichts bekannt, dass in Holzgerlingen die Pest grassiert«, bemerkte ich.
»Das ist doch abartig!«, rief die junge Staatsanwältin. »Worauf Menschen so alles kommen!«
»Es ist gar nicht so verwunderlich«, erwiderte Richard und wandte sich der in Rot geschlagenen jungen Frau zu. »Damals wusste man nichts über Leichen. Aber in Pestzeiten hat man frische Massengräber immer wieder öffnen müssen. Da sah man halb verweste Leichen und den Bakterienfraß in Leichentüchern und glaubte, sie holten die Lebenden herunter. Tatsächlich starben ja auch reihenweise Menschen.«
Ein Schauer schüttelte Meisner. »Richard, ich würde gerne noch ein paar Jährchen leben!« Bisher hatte ich geglaubt, die rundliche brünette Staatsanwältin vom Dezernat Tötungsdelikte lasse sich nur von einer Bäckertheke voll süßer Stückle aus der Ruhe bringen. Und Richard wiederum konnte merkwürdig kaltsinnig über historische Kadaver sprechen.
»Luther hat sich dagegen verwahrt und …«
»Bleib mir fort mit dem elenden Wüstgläubigen!«, rief ich und bekreuzigte mich.
»Es ist durchaus bedenkenswert, Lisa, was Luther einem Pfarrer antwortete, der von einem Schmätzer im Grab berichtete, der das halbe Dorf mit in den Tod zöge. Luther meinte, nur wer daran glaube, werde dahingerafft. Es ist der Teufel selbst, der uns Menschen mit Gespenstern narrt. Wer um Vergebung der Sünden betet, wird gerettet.«
»Folglich ist Juri Katzenjacob kein Protestant«, stellte ich fest.
Meisner nickte. »Daher auch der Rosenkranz.«
»Bitte?«
»Rosenfelds Hände waren mit einem Rosenkranz gefesselt … oder umschlungen, wie man es nimmt.«
»Ja, wenn man verhindern will, dass einer zum
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