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Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)

Titel: Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Quantenmechanik, der Theorie von den kleinsten Teilchen im Atom, stellte 1935 fest, dass eine Theorie Schwächen hat, wenn sie davon ausgeht, dass man das Verhalten von Atomen, Elektronen oder Lichtquanten nur erklären kann, wenn man annimmt, dass sie sich beispielsweise gleichzeitig an verschiedenen Orten befinden, bevor … ich betone … bevor man anfängt zu messen. Dann nämlich ändert sich alles. Der Beobachter, also das Messgerät vergibt einen exakten Wert. Was man nicht misst, bleibt unklar. So kann man beispielsweise sagen, wo sich ein Elektron befindet, aber nicht gleichzeitig auch, welche Geschwindigkeit es hat.«
    »Und was ist mit der Katze?«, fragte Roswita Kallweit besorgt. Katzen waren ihr Thema, an allen strategisch wichtigen Stellen ihres Büros befanden sich Katzenfigürchen oder Katzenbilder.
    »Ja, die Katze!« Richard kannte kaum ein größeres Vergnügen, als seine Wissensschatztruhe zu öffnen. »Stellen Sie sich das so vor: Eine Katze sitzt in einer verschlossenen Kiste. Wir sehen sie nicht. Mit ihr in der Kiste befindet sich ein Apparat mit radioaktivem Material, der Zyankaligas freisetzt, sobald ein Atom zerfällt. Man weiß: Innerhalb einer Stunde kann es einen Zerfall geben oder auch keinen. Die Wahrscheinlichkeit liegt genau bei 50 Prozent.«
    Kallweit und die junge Staatsanwältin nickten, LO StA Krautter starrte über sein Bier auf die Tischplatte und ließ sich seine Verunsicherung nicht anmerken. Meisner schnorrte bei mir eine Zigarette. »Ich hab’s vor zwanzig Jahren aufgegeben. Aber wenn man fünfzig wird, ist das Grab eh nicht mehr weit.«
    »Da wir in die Kiste nicht hineinschauen können«, redete Richard über Meisners Lebenskrise hinweg, »wissen wir nicht, ob die Katze noch lebt oder schon tot ist.«
    »Natürlich wissen wir das nicht«, rief Meisner. »Das ist banal. Wirklich! Prost, Richard!« Alle am Stehtisch hoben die Gläser. »Und wenn wir schon dabei sind … also, ich bin die Gesine. Aber das wissen Sie … das weißt du ja.«
    Meisner hangelte ihren Arm durch den von Weber und die beiden wurden zu Richard und Gesine, was in Kallweit sichtlich die Furcht auslöste, auch sie müsse ihren Chef künftig duzen. Das ist das Gefährliche an Geburtstagen kurz vor Mitternacht.
    Aber der Kelch ging an Roswita vorüber, denn Richard hatte es eilig, in seinem Thema weiterzukommen.
    »Das ist eben nicht banal, Gesine«, sagte er. »Denn die Quantentheorie sagt: Erst in dem Moment, wo wir reinschauen, nimmt die Katze einen der beiden Zustände an. Dann ist sie entweder tot oder lebendig. Bevor wir reinschauen, ist sie beides oder gar nichts davon, sie befindet sich sozusagen in einem Schwebezustand.«
    Das war jetzt nicht banal, dafür aber unvorstellbar.
    »Die arme Katze!«, bemerkte die junge Staatsanwältin.
    Kallweit nickte heftig.
    »Ja«, sagte Richard, »Schrödinger wollte mit diesem Bild darauf aufmerksam machen, dass etwas nicht stimmen kann mit den Quantentheorien. Das fand übrigens auch Einstein.«
    »Gott würfelt nicht!«, rief der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter.
    »Sehr richtig!« Richard richtete seine asymmetrischen Augen auf den Chef der Justizverwaltungsangelegenheiten bei der Generalstaatsanwaltschaft, der zu schwitzen begann. »Aber vermutlich wissen Sie nicht, was Einstein damit meinte.«
    »Nun ja, Sie werden es mir bestimmt gleich sagen.«
    Richard lächelte. »Einstein gefiel es nicht, dass die Quantenmechanik den Zustand der Teilchen nur mit Wahrscheinlichkeiten angeben konnte. Er fand, Zufall gehört nicht in die Physik.«
    Mir gefiel das auch nicht.
    »Inzwischen gibt es eine Quantentheorie, die ohne Beobachter auskommt und trotzdem funktioniert. 2004 haben zwei Mathematiker mit neuen mathematischen Gleichungen gezeigt, dass Elektronen und Quarks sehr wohl objektiv existieren. Müssen sie ja auch, denn wie könnten wir, die Beobachter – oder eben die Katze –, sonst objektiv existieren? Wir bestehen letztlich auch nur aus Atomen und …«
    »Gnade!«, rief Gesine Meisner. »Es reicht. Ich weigere mich anzunehmen, dass Rosenfelds Tod irgendetwas mit Quantenphysik und Psi zu tun hat. Ich weiiiigere mich!«
    »Wieso?«, flutschte es mir aus dem Mund, noch bevor ich die Dimension ahnte. Der Tumult der Party zog sich plötzlich hinter eine Lärmschutzwand zurück, die unseren Tisch umfing. Gleichzeitig verloren die Staatsmächte aus den Augen, dass ich nicht dazugehörte und sie mir gegenüber Stillschweigen hätten bewahren

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