Totensteige (Lisa Nerz) (German Edition)
spirituellen Erfahrungen haben.«
»Na!« Es ärgerte mich ganz grundsätzlich, dass eine gut zehn Jahre jüngere Frau mir Erfahrungen absprach, egal welcher Art.
»Am leichtesten finden wir Lebenden Kontakt zum Geist eines Verstorbenen am Ort seines Todes.«
»Und Sie erwarten jetzt von mir, dass ich die Leute vom Institut überzeuge, dass Ihre Agentur dort eine PU machen kann?«
Pause.
»Okay«, sagte ich. »Ich werd’s versuchen. Der Spaß ist es mir wert. Allerdings geht dort derzeit niemand ans Telefon.«
7
Im Fernsehen sah ich einen Bericht darüber, wie Japan seine Kinder auf Erdbeben vorbereitet. Nach den ersten Stößen, die senkrecht verlaufen, haben sie dreißig Sekunden Zeit, unter Tischen und Decken Schutz zu suchen, bevor die waagrechten Stöße beginnen, die Häuser zum Schwanken und Fensterscheiben zum Bersten bringen. Und schon bebte in Japan die Erde und erzeugte nicht nur verheerende horizontale Stöße, sondern auch einen Tsunami, der reichlich zwanzigtausend Menschen mitnahm und vier Meiler im Atomkraftwerk Fukushima zerschlug. Am Abend war klar, dass die Kernschmelze begonnen hatte. Die zufällig für den Samstag seit langem geplante Menschenkette gegen Atomkraft zwischen Stuttgart und Neckarwestheim wurde ungeahnt enggliedrig. Und jählings begriff unsere Kanzlerin, dass ein Ereignis, dem man eine Eintrittswahrscheinlichkeit von einmal in fünfhundert oder einer Million Jahren bescheinigt hatte, auch sofort passieren konnte. Zumindest erklärte sie, dies begriffen zu haben.
»Als Physikerin hätte sie es eigentlich besser wissen müssen«, bruddelte Richard. »Und wenn ihr jetzt behauptet, ihr hättet immer schon gewusst, dass so was passieren würde, ist das natürlich genauso realitätsfern.«
»Wer wir?«
»Ihr Atomkraftgegner.« Oberstaatsanwalt Dr. Richard Weber schaltete in den zweiten Gang und warf mir einen kurzen Blick zu. »Vor dem, was jetzt passiert ist, habt ihr immer Angst gehabt. Was nur zeigt, dass das menschliche Gehirn nicht für Wahrscheinlichkeitsrechnungen gemacht ist. Wie sonst können Leute bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 14 Millionen glauben, sie könnten im Lotto gewinnen.«
Das ließ er mich auf der Fahrt nach Ludwigsburg wissen, wo Kollegin Meisner im bereits hochsommerlich warmen April im Seeschloss Monrepos ihren fünfzigsten Geburtstag feierte. Am Ufer spielten die Mücken, Wasser gluckste unter den Ruder- und Paddelbooten. Im Saal lärmte eine Band, was nicht nur die Raucher auf die Terrasse trieb. Richards Neigung, aus jedem Geplauder eine schwäbische Grübelei zu machen, hatte seinen – unseren – Bistrotisch zum Zentrum einer Diskussion über die Wahrscheinlichkeiten gemacht, dass jemand in einer Dissertation Fehler entdeckte oder sich in einem deutschen Atomkraftwerk eine Kernschmelze ereignete.
»Ich habe Angst vorm Fliegen«, gab eine junge Staatsanwältin in leuchtend roter Busenverpackung zu. »Dabei habe ich kürzlich gelesen, dass das Risiko für einen Absturz bei 1 zu 150 000 steht und man 67 Jahre lang ununterbrochen fliegen müsste, um …«
»Das ist eben der Grundirrtum«, sagte Richard. »Am Ende dieser 67 Jahre hätte man also garantiert einen Flugzeugabsturz nicht überlebt, denken Sie. Aber genau dieser Absturz könnte sich mit derselben Wahrscheinlichkeit auch am ersten Tag ereignen oder nach drei Monaten oder nie.«
Ich hörte nicht mehr hin, bis Meisner rief: »Also, das mit Schrödingers Katze habe ich nie verstanden! Die Katze ist entweder tot oder nicht tot, wenn man den Kasten öffnet. Das ist doch banal.«
Richards Augen funkelten erregt. »Gar nicht. Der Witz ist, dass die Katze weder tot noch lebendig ist, bevor man reinguckt.«
»Meine Katze wird auch immer fetter, wenn ich nicht hingucke«, bemerkte Meisner.
Das fanden Richards Sekretärin Roswita Kallweit und die junge Staatsanwältin zum Giggeln komisch, während der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter verlegen lächelnd in seinem Kopf kramte, um irgendwas zu finden, was er dazu beisteuern konnte.
»Schrödingers Katze«, sagte Richard, der zwar nur Apfelschorle trank, aber zu vorgerückter Stunde übermütig wurde, »ist das Gleichnis dafür, dass die Quantenphysiker einen an der Klatsche haben.«
Meisner lachte. »So kenne ich Sie ja gar nicht … Richard!«
»Doch, doch«, sagte er. »Der Physiker Erwin Schrödinger selbst«, er schaute belehrend in die Runde der Juristen und meiner ungebildeten Kleinigkeit, »einer der Erfinder der
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