Totentöchter - Die dritte Generation
zugenommen, und wir können nicht verstehen, was wir zueinander sagen, deshalb rennen wir los, Hand in Hand in die Dunkelheit.
Der Wind klingt wie Stimmen. Es hört sich an wie das Lachen meiner Eltern, wie Rowan, der mich zu meiner Wache weckt, wie das Weinen von Cecilys Baby und Lindens »Ich-liebe-dich«. Ich halte nicht inne, um hinzuhören. Ich antworte nicht. Manchmal stolpern wir über Zweige und in Schneewehen und dann ziehen wir einander wieder hoch. Wir sind nicht zu stoppen. Und dann erreichen wir das Tor, das natürlich verschlossen ist.
Es gibt eine Schaltfläche, aber meine Schlüsselkarte funktioniert hier nicht. Habe ich wirklich erwartet, dass es anders wäre?
»Was jetzt?«, brüllt Gabriel mir durch den Wind hinweg zu.
Ich fange an, am Zaun entlangzugehen, will sehen, wo er endet. Aber bald wird mir klar, dass er kein Ende hat, dass er den ganzen Besitz in einem meilenweiten Kreis umschließt.
Was jetzt?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Die Freiheit ist so nah. Ich kann durch die Gitterstäbe
langen und die freie Luft berühren. Ich kann beinahe einen Zweig auf der anderen Seite des Tors berühren. Verzweifelt suche ich unsere Umgebung ab. Auf die Bäume zu klettern, ist unmöglich, die Äste sind zu hoch, der Zaun ist zu vereist. Ich versuche mich an den Gitterstäben hochzuziehen, aber es misslingt mir immer wieder. Doch ich versuche es weiter und weiter, bis Gabriel mich schließlich packt und zurückhält. Er knöpft seinen wollenen Mantel auf, zieht mich an seine Brust und wickelt ihn um uns beide. Wir knien beide in einer Schneewehe, und ich glaube, ich weiß, was er mir sagen will. Es gibt keinen Weg hinaus. Wir werden hier erfrieren.
Das jedoch bin ich diesmal – anders als im Hurrikan – nicht bereit hinzunehmen. In jener Nacht war ich so sicher, dass ich sterben würde, und doch hat mich etwas dazu gebracht weiterzumachen, immer weiterzumachen. Und als ich auf den Leuchtturm geklettert bin, habe ich den Ausgang gesehen. Ich glaube nicht, dass das für nichts und wieder nichts geschehen ist.
Ich spüre, wie Gabriel meine Stirn küsst. Doch sogar seine sonst so warmen Lippen sind kalt. Ich rücke ein bisschen von ihm ab und ziehe seinen Kragen bis über seine Ohren hoch. Seine Hände gleiten unter mein Haar, bleiben links und rechts von meinem Hals liegen, und so wärmen wir uns gegenseitig.
Ich hole Jennas Feuerzeug aus der Tasche, doch bei dem Wind ist es beinahe unmöglich, eine Flamme zu entfachen. Ich muss mich aus Gabriels Mantel winden und er die Hände um die Flamme legen, damit der Wind sie nicht raubt. Dabei kommt mir eine Geschichte in den Sinn, die ich in Lindens Bibliothek gelesen habe, über ein
sterbendes Mädchen, das Streichhölzer angezündet hat, um sich warm zu halten. Jede neue kleine Flamme brachte eine andere Erinnerung aus ihrem Leben mit sich. Aber im Moment ist nur die Erinnerung an Jenna da. Ihr kleines, glühendes Leben flackert zwischen unseren Händen. Das ist das einzige Licht in all dieser Dunkelheit, und ich glaube, nichts würde ich lieber tun, als diesen Ort in Brand zu stecken. Und dann zusehen, wie er in Flammen aufgeht – wie diese hässlichen Gardinen. Einen Baum anzuzünden und zuzuschauen, wie das Feuer auf die anderen übergreift … Aber der Wind ist zu stark. Es kommt mir vor, als hätte Vaughn diesen Schneesturm irgendwie entfesselt. Ich fürchte, dass er morgen früh meinen Körper und den von Gabriel finden wird, gefroren und tot, dem Entkommen so hoffnungslos nah.
Das kann nicht sein. Diese Genugtuung will ich ihm nicht bereiten.
Gerade als erwäge, einen der Bäume anzuzünden, höre ich eine Stimme durch den Wind. Ich denke, ich bilde mir das nur wieder ein, aber Gabriel sieht auch auf. Wir können gerade so eine nebelhafte Gestalt ausmachen, die auf unser kleines Licht zugerannt kommt.
Schnell springe ich auf und ziehe Gabriel mit mir. Das ist Vaughn. Vaughn kommt und will uns fertigmachen, oder noch schlimmer – uns in seinen Keller verschleppen und foltern, verstümmeln, auf Operationstischen festschnallen, im selben Raum wie Roses und Jennas Leichen. Ich renne los, aber Gabriel hält mich zurück. Der Mann kommt näher und es ist gar nicht Vaughn.
Es ist der nervöse Diener, der Gabriels Platz eingenommen hat. Derjenige, der gesagt hat, ich sei die Nette,
der gesagt hat, ich solle in meiner Serviette nach der Junibeere suchen.
Er wedelt mit etwas über seinem Kopf herum. Eine Schlüsselkarte. Sein Mund
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