Totentöchter - Die dritte Generation
diesem Leben, auf das sie so erpicht war. Ich weiß, eines Tages werde ich aufhören, sie zu hassen. Sie ist bloß ein Kind, ein albernes, naives kleines Mädchen, das auf Vaughns Lügen hereingefallen ist. Aber wenn ich sie ansehe, sehe ich nur Jennas kalte Leiche im Keller vor mir, die unter einem Laken auf das Messer wartet. Und das ist Cecilys Schuld. Und ich vergebe ihr nicht.
Meine letzte Station ist Jennas Zimmer. Ich stehe sehr, sehr lange in ihrer Tür. Ich sehe mir die Dinge darin an. Die Bürste auf der Kommode könnte sonst wem gehören, ihr Liebesroman ist nicht mehr da. Nur das Feuerzeug, das sie dem Diener gestohlen hat, ist von ihr noch geblieben, gut sichtbar. Es ist gar nicht bemerkt worden, weil keiner überhaupt darauf geachtet hat. Jetzt nehme
ich es und stecke es in meine Tasche. Dieses eine kleine Teil von ihr will ich behalten. Sonst ist nichts mehr da, was irgendeinen Erinnerungswert hat. Das Bett ist abgezogen, gereinigt und gemacht worden, als erwarte man, sie würde wiederkommen und ihren Kopf auf die Kissen legen. Das wird sie nicht, aber vielleicht ein anderes Mädchen – bald.
Hier ist nichts, wovon ich mich verabschieden kann. Kein tanzendes Mädchen. Kein schelmisches Lächeln. Sie ist weg, bei ihren Schwestern, hat sich befreit, ist entkommen. Und wenn sie jetzt hier wäre, würde sie sagen: »Geh!«
Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigt mir die Zeit an: 21:50 Uhr. Es ist, als würde sie mich zur Tür rausschieben.
Und ich sage nicht Lebewohl. Ich bin einfach weg.
Ich nehme den Fahrstuhl ins Erdgeschoss und durchquere die Küche. Ich nehme an, dass dort niemand mehr ist, doch als ich die Hand auf den Türknauf der Hintertür lege, lässt eine Stimme mich innehalten.
»Bisschen kalt zum Spazierengehen, meinst du nicht auch?«
Ich wirbele herum. Die Köchin kommt aus dem Flur und streicht sich das fettige Haar aus dem Gesicht.
»Das wird nur ein kleiner Spaziergang«, sage ich. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Pass da draußen auf dich auf, Blondie«, sagt sie. »Wenn du bei diesem Schnee einen kleinen Spaziergang machst, könntest du dich verirren und nie wieder zurückkommen.« Ein durchtriebenes Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Und das will doch keiner, stimmt’s?«
»Natürlich nicht«, sage ich vorsichtig. Was weiß sie?
»Nun, nur für den Fall, hier ist was, was dich warm hält.« Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie eine Thermosflasche bei sich hat. Sie ist so warm, dass ich es durch meine Handschuhe hindurch fühlen kann, als sie sie mir in die Hände drückt.
»Danke«, sage ich.
Sie öffnet die Tür für mich und klopft mir auf die
Schulter. »Sei vorsichtig«, sagt sie. »Es ist kalt da draußen.«
Ich mache einen Schritt hinaus. Als ich mich umdrehe und ihr danken will, hat sie die Tür schon wieder geschlossen.
Der Schneefall ist dichter geworden. Ich brauche lange, um durch die Schneewehen zu wandern, denn ich versuche meine Spuren zu verwischen. Als ich weit genug vom Haus weg bin, fange ich an, Gabriels Namen zu flüstern, doch der Wind raubt mir die Stimme. Alles ist wieder genauso wie während des Hurrikans, nur voller Schnee. Ich stolpere gegen einen Baum und taste mich am Waldrand entlang, dabei rufe ich seinen Namen ein wenig lauter und noch lauter. Schließlich finde ich das Hologramm. Ich greife nach einem Baum und falle durch ihn hindurch. Inzwischen bin ich so weit weg vom Haus, dass ich seinen Namen laut rufen kann.
»Gabriel! Gabriel!«
Aber er kommt und kommt nicht. Und ich weiß, dass ich bald eine Entscheidung treffen muss. Entweder renne ich ohne ihn zum Meer oder ich gehe zurück in den Schneesturm und suche ihn. Auf jeden Fall aber verlasse ich heute Nacht dieses Anwesen. Gabriel mag zwar nie ein Boot gesegelt haben, doch er weiß mehr über Boote als jeder andere, den ich kenne – und ich selbst weiß nahezu nichts darüber. Und was noch wichtiger ist, ich fürchte mich vor dem, was Vaughn tun wird, wenn Gabriel hierbleibt. Vaughn wird wissen, dass Gabriel mir bei der Flucht geholfen hat. Das ist der entscheidende Punkt. Gerade als mir klar wird, dass ich ihn nicht zurücklassen
kann, dass ich umkehren und ihn suchen muss, packt jemand mein Handgelenk.
»Rhine.«
Ich drehe mich um und falle ihm in die Arme. Zum zweiten Mal, in einem zweiten Sturm, kommt er und gibt mir Halt. Und ich will ihm so viel erzählen, alles, was in diesem schrecklichen Monat ohne ihn geschehen ist, aber dazu ist keine Zeit. Der Wind hat
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