Totentöchter - Die dritte Generation
gegenüber. Sie werden von ihren Aufwärtern umschwirrt, die beide in Weiß gekleidet sind. Der kleine Junge, Adair, richtet das weiße Samtmieder einer gertenschlanken Braut mit dunklem Haar, die mutlos auf ihre Schulter starrt und gar nicht zu bemerken scheint, dass man an ihr herumhantiert.
Das kleine Mädchen, von dem ich annehme, dass sie Elle ist, rückt Perlenspangen im Haar einer Braut zurecht, die sicherlich nicht mal fünfundvierzig Kilo auf die Waage bringt. Dieser Braut ist das rote Haar zu einem Bienenkorb toupiert worden. Ihr Kleid ist weiß, doch bei jeder Bewegung schimmern darauf ganz zart alle Farben des Regenbogens. Hinten am Mieder sind große durchsichtige Schmetterlingsflügel angebracht, die Glitter zu verstreuen
scheinen – doch das, bemerke ich, ist irgendeine Täuschung, denn nichts von diesem Glitter berührt je den Boden. Die Braut windet sich voll Unbehagen in ihrem Mieder, weil sie noch zu klein ist, um dessen Brustweite auszufüllen. Nicht mal auf Zehenspitzen würde der Rotschopf mir bis zur Schulter reichen.
Sie ist eindeutig zu jung für eine Braut. Das gertenschlanke Mädchen ist zu verzweifelt. Und ich bin zu unwillig.
Und doch sind wir hier.
Dieses Kleid fühlt sich so angenehm an auf meiner Haut und Deidre ist so stolz, und ich stehe hier in dem Raum, in dem vermutlich für den Rest meines Lebens meine Garderobe gefertigt werden wird. Doch mein einziger Gedanke ist: Wie kann ich flüchten? Durch einen Luftschacht? Eine unverschlossene Tür?
Und natürlich denke ich an meinen Zwillingsbruder Rowan. Ohne einander sind wir nur die Hälfte eines Ganzen. Den Gedanken an ihn, nachts ganz allein in unserem Keller, kann ich kaum ertragen. Wird er in den Bordellen des scharlachroten Bezirks nach meinem Gesicht suchen? Wird er den Lieferwagen einer seiner Arbeitgeber leihen und am Straßenrand nach meinem Körper Ausschau halten? Was auch immer er unternehmen mag, welche Orte er auch immer absuchen mag, dieses Anwesen inmitten von Orangenhainen und Gärten, so weit weg von New York, wird er niemals finden, da bin ich sicher.
Stattdessen werde ich ihn finden müssen. Dümmlich starre ich auf der Suche nach einer Lösung, die es nicht gibt, auf den viel zu schmalen Luftschacht.
Die Aufwärter lassen uns Bräute mitten im Zimmer Aufstellung nehmen. Das ist das erste Mal, dass wir wirklich die Gelegenheit haben, einander anzusehen. Im Lastwagen war es zu dunkel, und als wir gemustert wurden, waren wir so entsetzt, dass wir die Augen nur geradeaus richten konnten. Dann das Schlafgas in der Limousine – wir sind uns immer noch völlig fremd.
Der kleine Rotschopf zischt Elle zu, ihr Mieder sei jetzt aber zu eng geschnürt, wie könne man von ihr erwarten, dass sie bei der Zeremonie – dem wichtigsten Augenblick in ihrem Leben, fügt sie hinzu – ruhig steht, wenn sie keine Luft kriegt?
Das gertenschlanke Mädchen neben mir sagt nichts und tut nichts, während Adair auf einer Trittleiter hockt und ihr geflochtenes Haar mit winzigen künstlichen Lilien sprenkelt.
Es klopft an der Tür, und ich weiß nicht, was ich erwarte. Eine vierte Braut vielleicht oder dass die Sammler kommen und uns alle erschießen. Doch es ist nur Gabriel, der ein großes zylindrisches Paket hält und die Aufwärter fragt, ob die Bräute fertig sind. Er sieht keine von uns an. Als Elle ihm sagt, wir wären bereit, legt er den Zylinder auf den Boden, und mit einem mechanischen Surren entrollt er sich irgendwie zu einem langen roten Teppich, der bis hinaus auf den Flur geht. Gabriel verschwindet in den Schatten.
Seltsame Musik verströmt, offenbar aus der Deckenverkleidung. Die Aufwärter stellen uns in einer Reihe auf, von der Jüngsten zur Ältesten, und wir setzen uns in Bewegung. Es ist erstaunlich, wie synchron unsere Schritte sind, wenn man bedenkt, dass wir keinerlei
Übung haben und als bewusstlose Häuflein an diesen Ort verschleppt wurden, nach all der Zeit, die wir in diesem Lastwagen verbracht haben. In ein paar Minuten werden wir Schwesterfrauen sein. Das ist ein Begriff, den ich in den Nachrichten gehört habe, und ich weiß nicht, was er bedeutet. Ich habe keine Ahnung, ob diese Mädchen Verbündete oder Feinde für mich sein werden, ob wir nach dem heutigen Tag überhaupt zusammenleben werden.
Die Braut vor mir, der kleine Rotschopf, scheint zu hüpfen. Ihre Flügel flattern und wippen. Glitter umwirbelt sie. Wenn ich es nicht besser wüsste, ich könnte schwören, dass sie das alles hier
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