Totes Meer
können. Carol habe ich es schon gesagt. Ich habe damit gewartet, bis Tasha und Malik im Bett waren, damit sie es nicht hören. Als ich fertig war, fing Carol an zu weinen. Sie hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen und mich gebeten, sie eine Weile in Ruhe zu lassen. Ich habe sie gehen lassen. Es gibt nichts, was ich tun oder sagen könnte, das etwas an der Situation ändern würde. Am liebsten hätte ich auch geheult.
Früher am Abend, als ich rausgegangen bin, um Vögel fürs Frühstück zu jagen, haben sich die Dinge mal wieder zum Schlechteren entwickelt. Ich stand auf einem der Laufgänge und warf mit Hamburgerfett beschmiertes Alka-Seltzer auf das Deck, und die Vögel kamen zum Festschmaus. Ihre schlanken, grauweißen Körper schwebten durch die Luft und landeten auf der Plattform. Sie fingen an, an dem Köder herumzupicken, aber bevor einer von ihnen wirklich fressen konnte, stieß ein weiterer Vogel vom Himmel und stürzte zwischen sie. Federn flogen, und die Vögel kreischten überrascht. Ich fragte mich noch, was wohl dazu geführt hatte, dass er so landete, und dann sah ich es.
Dem Vogel fehlten beide Beine und ein Auge, aber er war immer noch in Bewegung. Er ignorierte den Köder. Stattdessen griff er eine andere Möwe an. Noch zwei wie er flogen auf uns zu. Die normalen Vögel stoben auseinander. Ich ließ meinen Eimer fallen, rannte über die Plattform und rechnete jeden
Moment damit, einen rasiermesserscharfen Schnabel zu spüren, der sich in mein Fleisch grub. Aber es passierte nichts. Ich schaffte es hinein.
Ich hatte verdammt viel Glück.
Hamelns Rache ist wieder zwischen den Arten übergesprungen, genau wie bei den Fischen. Die Vögel waren immun.
Jetzt sind sie es nicht mehr.
Wir können für lange Zeit hier drin bleiben. Solange der Generator nicht schlappmacht, kommen wir klar. Aber früher oder später werden uns Wasser und Essen ausgehen. Was passiert, wenn wir nichts mehr zu essen haben? Wie sollen wir jagen oder sonst wie nach Nahrung suchen, wenn unsere gesamte Beute bereits tot ist – und Jagd auf uns macht? Wenn einer von uns stirbt, könnten die anderen ihn dann essen? Gäbe es dann noch einen Unterschied zwischen uns und diesen Dingern da draußen?
Die Vögel sind jetzt Zombies, und die Zombies sind wesentlich zahlreicher als wir. Die Menschen gehören der Vergangenheit an. Wir sind die Letzten. Die Letzten einer aussterbenden Art. Wir sind die neuen Dinosaurier. Unsere Zivilisation endet mit uns. Alles, was wir erreicht haben, ist jetzt bedeutungslos. All unser Fortschritt. All unsere Geschichten. Helden sind jetzt nicht mehr wichtig, und das ist okay, denn ich bin kein Held. War ich nie. Ich bin nur ein gefallener Archetyp, beruhend auf einer Lüge. Was passiert mit dem Helden, wenn er stirbt? Er wird zum Mythos. Aber was passiert mit den Mythen, wenn
es niemanden mehr gibt, der sie erzählen kann? Verschwinden sie einfach, so wie wir es tun werden? Ich denke schon. Ich wette, die menschliche Geschichte ist voller vergessener Mythen – Helden, von denen wir nie etwas gehört haben, weil es einfach niemanden mehr gab, der uns von ihren Abenteuern berichten konnte. Ihre Reise – ihre Herausforderungen und Strapazen – waren am Ende völlig sinnlos, weil sie in Vergessenheit gerieten. Diese Mythen und Archetypen haben nicht überlebt.
Vergesst diesen Mist. Die Toten haben die Erde übernommen. Sie sind die neue Art – die neue herrschende Spezies des Planeten. Sie stehen an der Spitze der Nahrungskette.
Früher gab es einen Rap-Song, den ich wirklich mochte. Im Text hieß es: »Entwickle dich oder stirb«. Diese Zeile hat jetzt eine ganz neue Bedeutung für mich. Um zu überleben, muss eine Spezies sich entwickeln. Wir haben das getan, indem wir aus dem Meer kamen, und wir haben es wieder getan, als wir von den Bäumen stiegen.
Der Überlebensinstinkt ist ein Arschloch.
Aber die Evolution ist noch schlimmer.
Und wenn wir uns entwickeln müssen, um zu überleben, werde ich vielleicht einfach die Tür öffnen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DEAD SEA
Aus dem Amerikanischen
von Charlotte Langstrass
Deutsche Erstausgabe 05/2010
Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer
Copyright © 2007 by Brian Keene
Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
eISBN : 978-3-641-03872-4
www.heyne-magische-bestseller.de .
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