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Traeumer und Suender

Traeumer und Suender

Titel: Traeumer und Suender Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Goeritz
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eigentliche Zeremonie mit dem Aufstehen, Hinsetzen, Beten, Bekenntnisse sprechen, Schluchzen, Trauer heucheln, Trauer empfinden, sie waren ja alle Schauspieler im Angesicht des «Verlustes», den Trauerreden – seine las er ab, sie war kurz –, den Musiknummern, dem Gesangsbuchkitsch und der Aussegnung mit Glockenklang, hatte er gar nicht mitbekommen. Er war wie in Trance, gefesselt von einem schweren Nebel, der ihn erst wieder nach draußen entließ, als die Türen aufgingen und der Sarg hinausgetragen wurde. Ralph ging als erster hinter dem Sarg und zog ihn neben sich, sie mussten aussehen wie ein seltsames Geschwisterpaar.
    Das Licht, dachte Velder, hätte dem alten Mann gefallen. Helles, blaues Münchner Licht. Die großen Kumuluswolken wirkten wie Walzen in einem alten Harmonium, kündigten Regen an, später, jetzt noch nicht, jetzt war man noch auf dem Weg zum Friedhofstor, dann rechts, links, geradeaus, zum Grab, davor, dann runter. Der alte Mann hatte einen noch weiteren Weg zurückgelegt, dachte der Interviewer plötzlich. Er hatte sich in diesem Sterbezimmer nicht nur von der Welt und von ihm verabschiedet, er hatte auch sich selbst loslassen müssen, sich mit seinen gierigen Blicken auf die Welt, dem feinen, fast orgiastischen Gespür für die kleinen, körnigen Dinge, die jeden Tag aufleuchteten und die er, wie eine gigantische Rätselmaschine, in ihr Gespräch überführt hatte.
    Velder seinerseits war weit gekommen, sehr weit; bis an den Rand des Grabes eines ihm vor nicht einmal sieben Monaten noch vollkommen fremden Menschen, hineingeschlüpft in ein Leben, das er sich für sich selbst nicht einmal hätte erträumen können. Doch, er träumte. Allerdings einen Traum, der nicht seiner, sondern der des alten Mannes gewesen war. War das schlimm?
    Als die Erde mit unpassend kleinen, bunten Plastikschaufeln, wie sie Kinder für Sandburgen benutzen würden, in das Grab geschaufelt wurde, standen er und Ralph an der Seite, um die Beileidsbekundungen der Trauergäste entgegenzunehmen. Ein
Who-is-Who
-Defilee; Ralph nutzte die Zeit, um sich jeweils vor dem nächsten Kondolenten zu Velder zu beugen und ihm Namen und Geschäftsfelder, Bedeutungsstatus, Nähe zum Verstorbenen anzukündigen, ganz so, als wäre er der Prinz, dem jetzt die Eröffnung des Balls obliege, eine Gelegenheit, um Vertrauen zu schaffen, hatte Ralph gesagt, dass sie sehen, du kümmerst dich, du läufst nicht weg. Er würde beim Leichenschmaus eine weitere Rede halten müssen. Die stand schon, jetzt ging es darum,wenigstens über Augen, Hände und Namen mit der wirklich wichtigen Welt in Kontakt zu treten.
Gleiwitz
musste produziert werden. Ridley und die Kidman waren da, aber er machte sich keine Illusionen, mit Superstars würde er nicht verhandeln können. Er schnäuzte sich, legte das Leinentaschentuch geschickt mit einer Hand zusammen und steckte es in die Hosentasche. Und dann traute er sich, vor sich hin zu murmeln, was er dachte: Noch nicht.

Epilog
    Â«Ah, die Götter sind eingekehrt! Bei mir zu Hause. Sonst ist man ja nirgends mehr sicher. Kommen Sie rein, können Sie rausgucken, hat mein alter Mentor immer gesagt. Jaja, war ein Schweizer, muss sich hinter seinen Bergen wohl eingesperrt gefühlt haben. Ist vielleicht der Grund, warum die Schweiz so wenig große Filme, so wenig große Filmfeste hervorgebracht hat. Neutralität verpflichtet zu Langeweile. Wenn Sie Kunst machen wollen, brauchen Sie Widerstand.»
    Eine Zeit lang hörte er nur Kratzen und ein dumpfes Poltern, als er die Jacke ausgezogen und das Gerät dabei in die Ecke gestellt haben musste, wohl neben die Schuhe. Er erinnerte sich, Bergstiefel getragen zu haben.
    Â«Es gab viele Schweizer, die in die DDR ausgewandert sind, daran erinnert man sich heute nicht mehr. Mathilde Danegger zum Beispiel, die Schauspielerin, genau, die ewige DEFA-
Frau Holle
, war nach Zürich ins Exil gegangen, ist dann zwei Jahre nach Kriegsende nach Ost-Berlin. Aber kommen Sie, setzen Sie sich doch erst einmal.»
    Er erinnerte sich, auf der Couch Platz genommen zu haben, wie bei allen Besuchen. Diesmal war es sehr dunkel gewesen, das Wetter spielte nicht mit, ein Sturm kündigte sich an, das Licht sickerte wie Öl durch den Spalt der Vorhänge, es zog durch die Balkontür. Außer dem Wind hörte man keine Geräusche von draußen. Er hatte es beim Parken

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