Trantüten von Panem
wache ich mit Kopfschmerzen auf. Ich schwinge meine Beine aus dem Bett und will aufstehen, zucke aber vor Schmerzen zusammen, als ich mir die Fußsohlen an ein paar Glasscherben aufschlitze. Die Vase ist aus mir unerklärlichen Gründen auf den Boden gefallen und kaputtgegangen. Ich taumele unsicher zum Kleiderschrank. Mein Outfit wurde bereits für mich herausgesucht. Ich habe Glück, denn es handelt sich um meine normale Kleidung: eine schwarze Hose, eine kastanienbraune Bluse, ein Spitzen- BH und Rüschenunterhöschen.
Ich gehe ins Esszimmer. Der Tisch ist so gut wie leer – außer einem riesigen Berg Pfannkuchen, einem großen Blech voller Frühstücksspeck und einer Servierplatte mit Rührei. Ich seufze laut auf. Können die Hungerspiele eigentlich noch schlimmer werden? Ich habe genug davon, mir den Magen mit diesen teuren Lebensmitteln vollzuschlagen und umsonst in einer Luxuswohnung zu hausen. Ich möchte jetzt nur noch nach Hause in meine Bruchbude.
Edelkitsch betritt den Raum. Mir fällt auf, dass er nicht aus seinem Schlafzimmer, sondern durch die Apartmenttür kommt.
»Waren Sie die ganze Nacht unterwegs?«, frage ich.
Er knurrt bejahend, nimmt sich eine Handvoll Speck und öffnet die Tür zu seinem Schlafzimmer. Ehe er verschwindet, sagt er noch: »Bleib heute bei Pita – verstanden? Ihr beiden solltet zusammenhalten.« Damit knallt er die Tür zu.
Ich mache mich über mein Frühstück her, aber meine Gedanken sind bei Pita. In letzter Zeit hat er sich reichlich merkwürdig verhalten. Edelkitsch will, dass wir so tun, als ob wir Freunde wären. Aber ich hatte noch nie Freunde und weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Pita gibt sein Bestes. Er macht mir ständig Komplimente oder schreibt mir romantische Sonette. Und wenn ich mal durch eine Pfütze muss, legt er sich ins Wasser, sodass ich auf seinen Rücken treten kann, damit meine Schuhe nicht nass werden. Ihr wisst schon: was Freunde füreinander eben so tun.
Just in diesem Moment öffnet sich die Tür, und Pita kommt herein. Er trägt noch immer seinen Schlafanzug, kaut aber bereits an einer Brezel.
»Du solltest dich besser mal anziehen, sonst kommen wir zu spät zum Training«, sage ich.
»Ja, gleich. Einen Augenblick noch«, erwidert er, geht in die Küche und taucht kurz darauf mit einem Leinensack in der Hand wieder auf. Er hält ihn an die Tischkante und meint: »Kantkiss, wärst du so nett und schiebst das Essen in den Sack?«
Kaum ist der Sack voll, kehrt Pita in sein Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Dann geht es ab in den Lift, und kurz darauf öffnen sich die Türen unten im Trainingsstockwerk. Wir gesellen uns zu den Tributen, die bereits in der Mitte der Sporthalle warten.
Während die Trainingsleiterin den Tagesablauf erklärt, mustere ich die anderen. Einige von ihnen sehen so aus, als ob sie geradewegs aus Distrikt 12 kommen – sie sind dünn und bleich. Aber die anderen, insbesondere die sogenannten Kompetenztribute, sind groß und robust. Sie sind sowohl im Kampf als auch in Leinwandpräsenz geschult, wohl in der Hoffnung, dass sie eines Tages die Hungerspiele gewinnen und dann eine Hauptrolle in einer Fernsehserie bekommen. Tatsächlich kriegt so gut wie jeder Gewinner eine eigene Show, und es dauert in der Regel einige Jahre, ehe die Zuschauer ihrer überdrüssig werden. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mit meinem Vater vor vielen Jahren Alarm für Edelkitsch 11 angesehen habe.
Aber für jeden Kompetenztribut, der heute hier ist, gibt es Tausende, die nicht an den Hungerspielen teilnehmen dürfen. Mich schaudert es bei dem Gedanken. Ihr Leben lang verbringen sie damit, für die Hungerspiele zu trainieren. Sie machen den ganzen lieben Tag lang nichts anderes als Speere werfen und sich in der Kunst des Köpfens üben. Aber sobald sie achtzehn sind, müssen sie all das auf einen Schlag vergessen und sich in den normalen Alltag integrieren. Plötzlich sind sie keine Killermaschinen mehr, sondern Steuerberater. Oder Manager. Oder Köche. Dann dürfen sie nur noch heimlich morden.
Einer der Kompetenztribute schart den Rest seiner Kumpane um sich. Er kniet in ihrer Mitte und hält eine Ansprache. »Also, Kameraden. Wir sind hier. Wir haben es geschafft. Das ist der große Tag. Ich möchte, dass ihr alles gebt, bis zum Letzten. Verstanden?«, ruft er. »Unser ganzes Leben haben wir auf diesen Augenblick gewartet. Genießt ihn!«, fügt er mit einem Lächeln hinzu. Als sich die Traube um ihn auflöst, merkt der
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