Trantüten von Panem
wir ungestört reden und obendrein die atemberaubende Aussicht über das Kapital genießen – die Festzelte, das Riesenrad und selbst der Olympiaturm in der Ferne sind zu sehen. Trotz des Windes kann ich die Einwohner des Kapitals vor Entzücken kreischen hören, wenn die Achterbahn vorbeirauscht.
»Dann erzähl mal«, fängt Pita an. »Woher kennst du die Nichtsprech?«
Also erzähle ich ihm alles. Es ist jetzt ein halbes Jahr her. Carola und ich waren im Wald, als wir sie sahen. Das Mädchen, das ich heute beim Abendessen gesehen habe, trieb sich mit einem Jungen im Gebüsch herum. Soweit ich ausmachen konnte, knutschten sie miteinander. Das gefiel mir überhaupt nicht. Da stand ich und wollte jagen, während die mir mit ihrem lauten Geschmatze alle Tiere verscheuchten. Also hetzte ich die Friedensengel auf sie. Sie kamen auch bald im Eilschritt daher, schnappten sich die beiden Turteltäubchen und nahmen sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses fest. Woher hätte ich denn wissen sollen, dass die Strafe für einen Zungenkuss das Abschneiden der Zunge sein würde?
»Wow!«, meint Pita, als ich fertig bin. »Sie muss verdammt sauer auf dich sein.«
»Quatsch, das ist doch schon lange her«, versichere ich ihm. »Sie hat sich garantiert schon daran gewöhnt, ohne Zunge und als Sklavin zu leben.«
Pita fängt im kalten Wind zu zittern an. Er möchte wieder hineingehen. Bei all dem Fett auf den Knochen weiß ich, dass er nur so tut, als ob ihm kalt wäre. In Wahrheit will er wieder zurück, um noch mehr zu essen. Aber ich bin todmüde und willige ein.
Vor meinem Schlafzimmer wünsche ich ihm eine gute Nacht. Als ich eintrete, sehe ich, dass die Nichtsprech bereits auf mich wartet. Sie hat die Bettdecke zurückgeschlagen und hält ein Glas warme Milch für mich bereit. Würde denn jemand, der wütend auf mich ist, so nett sein?, denke ich selbstzufrieden. Da sehe ich, wie sich die Nichtsprech räuspert und in das Glas spuckt. Das war wahrscheinlich ein Versehen , sage ich mir und steige in das warme, weiche Bett.
»Dann schieß mal los. Wie lange arbeitest du denn schon hier?«, frage ich die Nichtsprech. Sie starrt mich wütend an. »Ach so, ja. Du kannst ja nicht sprechen. Tut mir leid«, sage ich. Es folgt eine unangenehme Stille. »Macht dir die Arbeit Spaß?« Keine Antwort. Wütend deutet sie mit dem Finger auf ihren Mund. »Das war eine Ja/Nein-Frage. Die hättest du beantworten können«, rüge ich sie, und sie wird rot im Gesicht.
Ich beschließe, der Nichtsprech gegenüber etwas netter zu sein. Ich stehe also auf, stelle mich neben sie, nehme ihre Hand, schaue ihr in die Augen und frage: »Wie heißt du?«
Es ist das erste Mal, dass die Wut aus ihrem Gesicht schwindet. Sie geht zum Fenster, vor dem eine Vase mit einer einzelnen Rose steht. Sie hebt den Finger und deutet auf die Blume.
»Ja, hübsch. Aber wie heißt du?«, frage ich erneut.
Sie deutet auf die Rose.
»Was? Willst du, dass ich sie gieße? Das ist doch deine Aufgabe.«
Da deutet sie wieder auf die Blume, diesmal mit mehr Nachdruck.
»Ach! Jetzt! Dein Name! Du heißt also … Vase?«
Sie schüttelt den Kopf und macht kreisende Bewegungen um die Rose.
»Kreis! Du heißt Kreis!«
Die Nichtsprech senkt für einen Augenblick den Kopf und schlägt die Hände vor das Gesicht, ehe sie die Blume aus der Vase herausnimmt.
»Na schön, Kreis. Du darfst die Rose behalten. Aber alles andere in diesem Zimmer gehört mir«, sage ich und klettere wieder ins Bett. »Und jetzt deck mich richtig zu.«
Kreis stöhnt laut auf und kommt näher. Sie zieht die Decke über meine Schultern und nimmt das Kopfkissen, um es hart auf mein Gesicht zu drücken. Ich kann nicht anders. Ich muss einfach kichern.
»He, hör auf damit! Sonst erstickst du mich noch!«, bringe ich mühsam zwischen den Lachanfällen hervor. Endlich lässt sie von mir ab. Ich setzte mich auf und schnappe nach Luft. »Was hat man eigentlich mit deiner Zunge gemacht, nachdem man sie dir herausgeschnitten hatte? Durftest du sie behalten?«
Die Nichtsprech runzelt die Stirn und nimmt die Vase vom Fenster. Wir verstehen uns wirklich gut , denke ich. Absolut unmöglich, dass sie noch immer wütend auf mich ist. Also bombardiere ich sie mit weiteren Fragen. Aber statt zu antworten, hebt die Nichtsprech die Vase hoch und schlägt sie mir mit voller Wucht auf den Kopf. Wahrscheinlich um mir beim Einschlafen zu helfen. Und in der Tat falle ich sofort in Tiefschlaf.
5
Am nächsten Morgen
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