Trapez
Familie nicht, es zu vergessen, dass sie der Adel des Zirkus waren. Bei ihm oder bei irgend jemand, der unter ihm arbeitete, übertünchte der Showglitter nicht den Dreck hinter der Fassade.
Übungskleider mochten schäbig und abgetragen sein, aber sie waren geflickt und sauber gewaschen. Angelo war nicht zu alt, um für einen ungeflickten Ri ss in einem Hemdsaum ausgeschimpft zu werden. Und wie früh auch die Trapezbauer auftauchten, um das Gerüst aufzubauen, Antonio Sant elli erschien gekämmt und glatt rasiert, mit feuchtem Schnauzer und nach Seife duftend, um sie zu überwachen.
Drei Dinge waren Mario so früh anerzogen worden, dass er sie fast unausgesprochen an Tommy weitergeben konnte. (Sogar heute noch, wenn er sich vor der Show umzog, hielt Mario unwi llkürlich seine sauberen und un angekauten Fingernägel zur Kontrolle hin. Er erwischte sich dabei und lachte über sich, und inzwischen war es ein Familienwitz geworden, aber Tommy wu ss te, dass es eine Zeit gab, zu der es überhaupt nicht komisch war.) Und Tommy hatte schnell gelernt, dass es nicht angeraten war, mit schmutzigem Ellenbogen oder einem T-Shirt aufzutauchen, das eigentlich hätte in der Wäsche sein müssen. Ihre Bühnenkostüme wurden nach jeder Vorstellung gebürstet und gelüftet, Trikots und Kleider aufgerollt und in die Wäsch e oder zum nächsten Selbstbedie nungswaschsalon gegeben. Der Wohnwagen, dachte Tommy manchmal, war sauberer, als der seiner Mutter.
In der Mitte war eine kleine Küche, vollgestopft mit einem zweiflammigen Herd, einem winzigen Kühlschrank, einer Spüle. Sie hatten eine Toilette und ein Waschbecken, aber keine Dusche. Zu der Zeit, als er gebaut wurde, hatten Wohnwagen noch keinen solchen Luxus.
»Trotz alledem«, erzählte ihm Mario einmal, halb entschuldigend, »sind wir alle unter dem Zirkuszelt groß geworden . Und man gewöhnt sich dran ein Bad zu nehmen, sein Trikot zu waschen und seine Füße zu baden – alles in einem Eimer. Im Umkleidewagen bekommt jeder zwei Eimer Wasser. Schlu ss ! Wenn du ein heißes Bad möchtest, mu ss t du auf die großen Städte warten, wo es ein Schwimmbad oder öffentliche Badehäuser gibt.«
Im hinteren Teil des Wagens trennten hölzerne Lattentüren ein schrankartiges Schlafzimmer ab, das Angelo mit seinem Vater teilte. Vorn ließen sich zwei kurze, gepolsterte Bänke zu engen, ziemlich harten Betten ausrollen. Und dort schliefen Mario und Tommy.
Als der Jüngste im Akt hatte Tommy die traditionsgemäße Verantwortung für allerhand kleine Pflichten.
Sogar die Ankündigung als Star, wenn zufällig der Jüngste sie erreichte – wie es mit Mario dieses Jahr der Fall gewesen war – , konnte ihn nicht von den traditionellen Familienpflichten entbi nden, die dem Jüngsten aufgetra gen wurden. Als Tommy bei seinen Eltern wohnte, wurden ihm ein paar davon erspart; jetzt war es für alle selbstverständlich, dass er sie übernehmen würde.
Eigentlich machten Tommy die Pflichten Spaß : In jeder Stadt die Sachen mit Mario in die Wäscherei bringen oder Trikots und Pullover im Selbstbedienungswaschsalon waschen, nach der Abendvorstellung das Abendessen bereiten und es wieder wegräumen, den Wohnwagen nach verlegten Sachen absuchen, bevor sie losfuhren, Wäscheleinen aufhängen, Kostüme flicken, nasse Trikots aufhängen. Er war zu beschäftigt, um sich viel Sorgen um seinen Vater zu machen; da sie eine Stadt nach der anderen bespielten und dann Staat nach Staat, ergab sich ein fester Ablauf von Training, Aufführung, Arbeit und Schlaf, der wenig Platz für etwas anderes ließ .
Sie erreichten Lawton, Oklahoma, durch eine graue Schauerwand. Ein tagelanger Regengu ss hatte buchstäblich jeden Gedanken an eine Abendvorstellung ertränkt, und Lambeth sagte die Show ab, grollte und redete verdrießlich davon, zu einem Wahrsager anstatt zum örtlichen Wetterbüro zu gehen. Die meisten Artisten waren jedoch froh, nach langer Tournee und zwei Freiluftvorstellungen täglich, einen ganzen Tag und Abend freizuhaben.
Als es dämmerte, kam Angelo zum Wohnwagen, um sich zu rasieren und sich umzuziehen, und fand Tommy am Küchentisch hinter seinen Schulbüchern.
»Junge, ich geh’ mit Margot in die Stadt ins Kino.
Wenn du mit Ellen oder Little Ann los willst, setz’ ich euch irgendwo ab.«
»Danke«, sagte Tommy finster, »aber Little Ann liegt mit Ohrenschmerzen im Bett; hat dir Margot das nicht erzählt? Und Ellen ist zu irgendwas in der Baptistenkirche mit ihrer Familie gegangen,
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