0907 - Imperium der Zeit
»Bückt euch, Römer. Lasst unsre Hand' in Cäsars Blut uns baden bis an die Ellenbogen! Färbt die Schwerter! So treten wir hinaus bis auf den Markt, und, überm Haupt die roten Waffen schwingend, ruft alle dann: ›Erlösung! Friede! Freiheit!‹«
William Shakespeare, Julius Cäsar, 1599
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Die Dicke war den Tränen nah, das spürte er. Sie mochte zwar aussehen, als könne nichts ihre Hülle durchdringen, doch Thomas wusste, dass er kurz davor stand, ihre Mauern einzureißen. Überhaupt: Welche Hülle eigentlich? Etwa diesen Koloss von Leib, den sie mit einer abenteuerlichen Mischung aus breiten Schals, der Übermutter aller Stretchjeans und einem bunt gemusterten Strickpullover zu kaschieren versuchte, welcher selbst der hartgesottensten Inhaberin eines dieser unsäglichen Dritte-Welt-Läden noch die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte? Etwa diese Fettschicht, die sie sich in jahrelangen Schokoladenorgien vor dem heimischen Fernseher antrainiert hatte? Wahrscheinlich streichelte sie dabei eine ihrer vermutlich drei Katzen und versuchte, ihre jämmerliche Single-Existenz in einem weiteren Schmachtfetzen mit Colin Firth oder irgendeinem anderen ach so distinguiert aussehenden Engländer zu vergessen.
Nein , dachte Thomas in einer abstrusen Kombination aus Widerwillen und Faszination. Das ist keine Schutzhülle, im Gegenteil. Es ist eine XXL-Angriffsfläche.
Manchmal liebte er seinen Beruf. Wie heute Abend zum Beispiel.
»Er sagt, dass er Sie nie vergessen hat«, raunte Thomas mit betont angestrengtem Gesichtsausdruck und spürte, wie die Hand der Dicken, die er mit seinen eigenen Händen fest und nahezu schon väterlich umklammerte, noch eine Spur feuchter wurde. Noch eine Spur nervöser. Er hörte den schnaufenden Atem der Frau, das leise Schluchzen, das sich langsam aber sicher einen Weg aus den Untiefen ihres massigen Körpers bahnte. Und er wusste - er wusste es einfach! -, dass nun alle Augen in diesem TV-Studio auf sie beide gerichtet waren, auf ihn und die Dicke. Sein Opfer, das er in einer wahllos scheinenden Geste aus dem Saalpublikum der heutigen Sendung gepickt hatte.
Und das ihm seit einer knappen Viertelstunde nahezu aus der Hand fraß.
Thomas spürte, wie der ganze Raum den Atem anhielt. Würde er ihr tatsächlich eine Botschaft aus dem Jenseits übermitteln können, wie er es versprochen hatte - live und vor laufenden Kameras, die seine Bemühungen nahezu unmittelbar auf die Bildschirme unzähliger Haushalte der Region Trier übertrugen?
Natürlich würde er das. Zumindest würde er sie es glauben lassen.
Oh, diese Schafe. Diese dämlichen, treudoofen Schafe, die sich hinter ihren dicken Brillen und kleinen Existenzen versteckten und vor lauter Sehnsucht emotional zu ertrinken drohten. Was wäre er nur ohne sie?
Bestimmt nicht der Thomas Scheuerer, als den man ihn in Trier und Umgebung kannte. Den Seher, das Medium - den paranormalen Weltengänger, dessen vor Jahren begonnene und selbst von den Oberen des Senders anfangs nur müde belächelte wöchentliche Show mittlerweile die höchste Einschaltquote des ganzen Hauses einfuhr. Thomas war ein Star hier, der Einäugige unter den Blinden. Und das Studio II des Offenen Kanals Trier gehörte heute Abend erneut ganz und gar ihm. Besser konnte es nicht laufen, besser konnte sich ein Mensch nicht fühlen.
Zeit für den Todesstoß , befand er mit einem leichten Schmunzeln, und beugte sich noch weiter zu der Dicken vor. Wie, hatte sie gesagt, heiße sie? Sonja, Silke? Irgendwas mit A? Es war egal, er erinnerte sich nicht daran. Warum auch? Sie war ein Schaf, genau wie all die anderen kranken Existenzen auf den wenigen Zuschauerplätzen. Nichts als ein manipulierbares Schaf, das man mühelos zum Blöken brachte, wenn man nur die richtigen Handgriffe beherrschte.
»Er sagt… dass er sie vermisst«, keuchte Thomas publikumswirksam und spannte seine Schultern an. Angestrengt sah er aus, als koste ihn diese Verbindung zu den Toten die letzten Kraftreserven. Schweiß stand ihm auf der Stirn, eine wahrlich oscarverdächtige schauspielerische Leistung.
»W… Walter?«, hauchte die Dicke nahezu atemlos, und Thomas klopfte sich gedanklich auf die Schulter. Na also, ein Name.
»Walter tut es leid, dass er Ihnen seine wahren Gefühle zu Lebzeiten nie gestanden hat«, versicherte er seinem Gegenüber, das nun hemmungslos flennte. »Und er sagt, dass er Sie noch immer liebt. Dass er…«
Sollte er wirklich? Es wäre gemein, aber andererseits auch
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