Trauerweiden
Volksfestfreitag,
20. September, 23.17 Uhr
Schwarzblau glänzte das Wasser der Jagst. Der silberne Vollmond tauchte die nächtliche Szenerie in ein kaltes, aber relativ helles Licht. Jessica Waldmüller blieb stehen und betrachtete den stetig plätschernden Fluss unter ihr. Sie hörte das Quaken einzelner Enten und das verhaltene Blöken der Schafe von der kleinen Insel, die von den beiden Armen der Jagst umspült wurde. Hinter ihr rauschte das Wehr, ein ständiges Geräusch, das man kaum mehr wahrnahm, wenn man jeden Tag hier vorbeikam. In der Dunkelheit hatte das unterschwellige Rauschen jedoch etwas Apokalyptisches. Ein wohliges Gruseln stellte sich bei Jessica ein. Sie liebte solche Nächte. Sie liebte die Leuchtstabauftritte. Und sie liebte das Volksfest. Sie war gern eine Majorette. Und sie war auch gern eine Frau. Das Kinnband ihrer Kappe drückte ein wenig. Ein leiser Lufthauch zauste den kurzen, gelben Faltenrock. Ein Geräusch? Etwas, das nicht zum Tosen des Wehrs und zur nächtlichen Jagst gehörte? Jessica Waldmüller wandte sich um. Das Messer stach so schnell in ihr Herz, dass ihr nicht einmal mehr Zeit zum Schreien blieb.
Florian Ehrmann beobachtete den Mann auf dem Stuhl. Er sah gar nicht so unglücklich aus, wie die anderen behaupteten. Obwohl ihm seine exponierte Sitzposition sichtlich etwas peinlich war. Den ganzen Abend lang hatten sie ihn bedauert, ihm versichert, dass es nun ganz aus sei, dass sein Leben gelaufen wäre. Florian wusste, dass das eben so üblich war. Sie hatten sich alle T-Shirts mit der Aufschrift »Zu spät« besorgt. Und jetzt saßen sie hier, seit vier Stunden, tranken Bier und sinnierten über den Sinn des Lebens. »So, Steffen«, brüllte nun Mario, einer der Kumpanen, den Mann auf dem Stuhl an. »Wie du ja weisch, is es jetz aus. Du hasch nix mehr zum lacha. Awwer scheint’s hasch’s ja net andersch gwellt.« Steffen Senglein grinste verhalten. Mario Schuster fuhr fort: »Awwer weil mir dei Freind sin, hewwa mir do ebbes für di organisiert.« Unter dem dröhnenden Applaus der Männer schob nun Bernhard Hofmeister einen Hubwagen mit einem riesigen Paket herein. Es war in rosafarbenes Geschenkpapier gehüllt, und eine goldene Schleife prangte darauf. Wenn er, Florian, in dieser Situation wäre, er wäre der glücklichste Mann der Welt. Und das nicht wegen des Hubwagens. Und auch Steffen sah ganz und gar nicht so unglücklich aus, wie seine Freunde taten, und Florian hatte bei ihm ebenfalls nicht den Eindruck, dass das nur an dem Hubwagen lag. Steffen Senglein heiratete gern. Er war rundum zufrieden mit seiner Freundin und hatte sie endlich gefragt. Sie war tatsächlich nicht schlecht, die Freundin vom Senglein. Nicht schlecht. Aber gegen seine Jessi war sie gar nichts. Die Jessi war Florians absolute Traumfrau, und er war glücklich mit ihr. Und während zu den Klängen von Joe Cockers »You can leave your head on« und unter dem johlenden Beifall der Jungs die Stripperin aus dem Paket sprang, reifte in Florian Ehrmann der Entschluss, seine Jessi endlich zu fragen, ob sie ihn heiraten wollte.
»Die Krüge --- hoch! Die Krüge --- hoch! Die Krüge --- hoch!«, dröhnte es im Engelzelt. Lisa Luft hob unbeholfen die Hand mit dem Maßkrug. Das Ganze war ihr etwas peinlich. Peinlich und definitiv ungewohnt. Nicht, dass es in ihrer nordrhein-westfälischen Heimat keine Feste gegeben hätte. Das Weinfest gab es. Und das Schützenfest. Durchaus, durchaus. Aber etwas von diesem Ausmaß in einer so kleinen Stadt wie Crailsheim – das hätte sie nicht für möglich gehalten. »Ein Prrrrroooooohsit, ein Prooooooohsit, der Gemüüüüht---liiihhhch---keeiiit --- ein Prooooohhhsit, ein Prohoohosit der Gemüüüüüht-liiiiich-keeeeeit«, jubilierte nun die überaus hübsche und sehr blonde Sängerin, begleitet von ihrer Band, die für diesen denkwürdigen Augenblick von Pop und Schlager auf Volksmusik umgeschwenkt hatte. Heiko neben ihr trank brav aus seinem Maßkrug, wie die Band es verlangte. Sie beide waren Kollegen, seit letztem Januar. Kollegen, aber auch ein Paar. Und das letzte halbe Jahr mit Heiko war sehr schön gewesen. Lisa, die doch eigentlich ein Stadtkind war, hatte das Landleben im Hohenlohischen durchaus schätzen gelernt. Crailsheim war schön. Und es war alles da, was man brauchte. Nun gut, zum Überleben eben. Eine Oper gab es hier nicht, geschweige denn ein Theater. Aber das machte den Hohenlohern nichts aus. Sie hatten ja das Volksfest. Das Fränkische
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