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Traumfänger

Traumfänger

Titel: Traumfänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlo Morgan
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gewesen, der die einzelnen Blüten- und Staubblätter sehr fein herausgearbeitet hatte. Alle trugen entweder zwei einzelne Stoffstücke oder ein Wickelkleid, wie sie es mir gegeben hatten. Ich sah keine Babys oder Kinder, nur einen Jungen im Teenageralter.
    Mein Blick blieb an der am aufwendigsten geschmückten Person im Raum hängen - ein Mann, dessen schwarzes Haar von grauen Strähnen durchzogen war. Sein gestutzter Bart betonte den Ausdruck von Würde und Stärke in seinem Gesicht. Er trug einen phantastischen Kopfschmuck aus dicht gesteckten Papageienfedern in den buntesten Farben. Wie bei den anderen Männern waren Oberarme und Fußgelenke mit Federn geschmückt. Er hatte sich verschiedene Dinge um die Taille gegürtet, und vor seinem Oberkörper prangte ein runder, kunstvoll gearbeiteter Brustschmuck aus Steinen und Samen. Einige der Frauen hatten ähnliche, kleinere Versionen dieser Brustplatte, die sie als Kette trugen. Der Mann lächelte und streckte mir beide Hände entgegen. Als ich in seine schwarzen, samtenen Augen schaute, überkam mich ein Gefühl von Sicherheit und absolutem Frieden. Ich glaubte noch nie ein Gesicht gesehen zu haben, in dem so viel Sanftmut geschrieben stand.
    Trotzdem war ich hin- und hergerissen. Die angemalten Gesichter und die rasiermesserscharfen Speere, welche die Männer im Hintergrund vor sich aufgepflanzt hatten, verstärkten meine ständig wachsende Furcht. Auf der anderen Seite wirkten sie alle fröhlich, und es ging eine Atmosphäre von Vertraulichkeit und Freundschaft von ihnen aus. Ich pendelte mich irgendwo in der Mitte meiner Gefühle ein, indem ich mir meine eigene Dummheit vorführte. Dies hier ähnelte nicht im geringsten dem, was ich erwartet hatte.
    Noch nicht einmal im Traum hätte ich mir vorstellen können, daß ich mich inmitten so nett und freundlich wirkender Menschen so bedroht fühlen könnte. Wäre doch bloß meine Kamera nicht von den Flammen vor der Hütte verschlungen worden! Was für großartige Fotos hätte ich in meine Alben kleben oder später einem staunenden Publikum von Freunden und Verwandten als Dias vorführen können. Meine Gedanken wanderten zum Feuer zurück. Was verbrannte da noch?
    Die Vorstellung ließ mich erschauern: mein internationaler Führerschein; orangefarbene australische Banknoten; der Hundertdollarschein, den ich seit Jahren in einem Geheimfach meiner Brieftasche bei mir trug und der mich an den ersten Job meiner Jugend bei einer Telefongesellschaft erinnerte; ein Exemplar meines cremigen Lieblingslippenstiftes, den es in diesem Land nicht zu kaufen gab; meine Diamant-Armbanduhr und der Ring, den mir meine Tante Nola zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte - alles den Flammen übergeben. Ich wurde in meinen beklemmenden Gedanken unterbrochen, als mir mein Übersetzer, der sich Ooota nannte, den Stamm vorstellte. Ooota sprach seinen Namen mit einem langen »Ooo«, das er fast zu einem Oooooo« ausdehnte, um dann mit einem abrupten »ta« zu enden.
    Der Mann mit den wunderschönen Augen, der wie ein gütiger großer Bruder wirkte, wurde von den Aborigines als »Stammesältester« angesprochen. Er war jedoch nicht der älteste Mann der Gruppe, sondern mehr das, was wir unter einem Häuptling verstehen.
    Eine der Frauen begann, ein paar Hölzer aneinanderzuschlagen, und nach und nach fielen die anderen Frauen ein. Die Speerträger stießen die langen Schäfte ihrer Waffen in den Sand, und wieder andere klatschten in die Hände. Die ganze Gruppe fiel in eine Art Sprechgesang. Mit einer Handgeste wurde ich aufgefordert, auf dem sandigen Boden Platz zu nehmen, während sie eine für die australischen Ureinwohner typische Feier, ein Korrobori, inszenierten. Sobald ein Lied beendet war, setzten sie schon zum nächsten an.
    Mir war bis zu diesem Moment entgangen, daß einige von ihnen Bänder mit großen Pflanzenhülsen um die Fußgelenke trugen, doch jetzt, als diese mit den getrockneten Samen in ihrem Inneren zu lauten Rasseln wurden, waren sie nicht mehr zu überhören und zu übersehen. Als nächstes begann eine der Frauen zu tanzen, und bald war es eine ganze Gruppe. Manchmal tanzten die Männer allein, dann kamen die Frauen wieder mit dazu. Es war ihre Geschichte, an der sie mich auf diese Art und Weise teilhaben ließen.
    Schließlich nahm das Tempo der Musik ab, und auch ihre Bewegungen wurden immer langsamer, bis sie alle völlig stillstanden. Es wurde nur noch ein ganz regelmäßiger Rhythmus geschlagen, der dem Klopfen

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