Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
Ohne ihn sah Cunsher wie ein gepflegter Waldbewohner aus, mit einer Wollweste und flickenbesetzte Hose, und im Gegensatz zum Doktor penibel sauber.
»Celeste«, sagte Svenson nach einer weiteren vollen Minute des Schweigens, »Sie müssen mir glauben, ich wollte nichts mehr als mit Ihnen zu sprechen.«
»Die Verletzungen hätten den Doktor eigentlich töten müssen«, erklärte Phelps. »Er war wochenlang ans Bett gefesselt …«
»Es war ein großes Glück, dass der Säbel die Rippen getroffen hat, ohne weiter einzudringen«, sagte Svenson. »Ein erheblicher Blutverlust, aber was ist schon Blut? Mr. Phelps hat mir das Leben gerettet. Er hat seine Fehler eingesehen, und wir haben uns zusammengetan.«
»Wie ich sehe.«
Svenson seufzte verzweifelt. »Meine liebe …«
»Wenn man Ihnen gefolgt ist, sollten wir gehen«, murmelte Cunsher. Er sprach mit einem Akzent, den Miss Temple nicht zuordnen konnte.
»Man ist uns nicht gefolgt«, widersprach Brine barsch.
»Cunsher war unsere Augen«, sagte Phelps.
Miss Temple rümpfte die Nase. »Er war in Parchfeldt.«
»Und er hat Ihr Hotel überwacht. Ihre Bewegungen wurden von unseren Feinden beobachtet. Und Ihre Männer …«
»Wurden geschnappt«, sagte Miss Temple. »Als sie nach Harschmort gefahren sind, ich weiß.«
»Celeste«, Svensons Stimme war unglaublich sanft, »Sie waren sehr mutig …«
Miss Temple widerstand dem Bedürfnis, ihm den Kakao ins Gesicht zu schleudern. »Chang ist tot. Eloise ist tot. Sie erzählen mir, dass ich beobachtet werde und dass meine Bemühungen untergraben wurden. Wenn ich Sie finden konnte, steht es dann um Ihre Bemühungen besser? Es würde mich nicht überraschen, wenn die Contessa sich ins Nachbarhaus gesetzt hätte, nur um über Ihr sinnloses Versteckspiel zu lachen.«
Niemand sagte etwas. Miss Temple sah Zweifel in Cunshers Gesicht und Verachtung auf Phelps’. Mr. Brine blickte zu Boden. Doktor Svenson nahm ihr sanft den Becher aus der Hand und stellte ihn auf den Boden. Dann ergriff er Miss Temples Hände mit seinen, deren Finger lang und kalt waren.
»Ich sage, Sie sind mutig, Celeste, weil Sie es sind – viel mutiger als ich. Verzweiflung schenkt jedem die Stärke eines Helden. Eine wahre Heldin im Leben zu sein ist etwas anderes.«
Miss Temple hob grollend eine Schulter. Doktor Svenson blickte zu den anderen.
»Und ich nehme an, sie hat recht. Wir sollten sofort aufbrechen.«
Sie gingen zügig im Gänsemarsch zwischen den Häusern hinter Albermap Crescent hindurch. Phelps vorneweg, dann der Doktor und Miss Temple, und Mr. Brine bildete die Nachhut. Mr. Cunsher war geblieben, um sämtliche Beweise ihres Aufenthalts im Ofen zu verbrennen. Er würde später zu ihnen stoßen.
»Warum können wir nicht einfach ins Boniface zurückkehren?«, fragte Miss Temple
»Weil ich nicht vorhabe, mich in die Hände meiner Feinde zu begeben«, flüsterte Phelps, ohne sich umzudrehen. Er winkte sie durch ein ramponiertes schmiedeeisernes Tor. »Ducken Sie sich … und nicht sprechen … mit ein wenig Glück sieht uns niemand …«
Hinter dem Tor befanden sich verlassene Häuser, aufgerissene Gehwege, von Unkraut überwuchert, und ein offener Anger. In der Dunkelheit konnte Miss Temple eine Unzahl Stoffzelte und flackernde Laternen ausmachen, dazu Gesprächsfetzen in fremden Sprachen. Svenson nahm ihre Hand. Sie fragte sich, ob sie die von Mr. Brine nehmen sollte, damit keiner verlorenging, aber sie tat es nicht. In der Nähe eines Zelts bellte ein Hund, und überall erhob sich Gekläff. Die Gruppe rannte los und ließ die Rufe hinter sich, die den Hunden folgten, Herausforderungen an vorüberstreichende Geister.
Der Weg endete an einer hohen Steinmauer. Phelps betastete sie wie ein Blinder. Miss Temple blickte zurück. Der Hund hatte die anderen erneut mit seinem Gebell angesteckt.
»Ich nehme an, das ist Mr. Cunsher«, flüsterte Brine.
»Wer ist Mr. Cunsher?«, fragte Miss Temple.
»Ein Mann, der dem Ministerium bekannt ist«, erwiderte Svenson. »Sie würden ihn einen Spion nennen.«
»Aber nicht von hier.«
»Nicht mehr als Sie oder ich, was für ihn spricht, nachdem diese Stadt eine Schlangengrube ist …«
Miss Temple bemerkte, dass der Doktor leise den Mariner Revolver gezückt hatte.
»Endlich … endlich«, brummte Phelps, und sie hörte, wie sich ein Schlüssel drehte. »Los, hinein und die Treppe hinauf.«
»Ein Relikt aus alten Zeiten.« Phelps’ Flüstern hallte von der gemauerten Decke wider. Er stellte
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