Traumfresser 3 - Die Alchemie des Bösen
seine Knie mühsam angewinkelt. Miss Temple wimmerte laut und gequält. In ihrem Traum war das Verlangen grotesk gewesen. Aber das stimmte nicht, und die Wahrheit trat in dem liebevollen Blick zutage, den in ihrer Fantasie Eloise und der Doktor wechselten, während ihre schimmernden braunen Augen zu seinen hellblauen aufblickten. Miss Temple zog schniefend die Nase hoch. Was das Verlangen unerträglich machte, war die Liebe.
Auf ein Geräusch hin drehte sie sich um. Doktor Svenson stand im Türrahmen.
»Ich habe gehört, wie Sie aufgestanden sind. Alles in Ordnung?«
Sie nickte.
»Ist Ihnen nicht kalt?«
»Ich hatte einen Traum.« Miss Temple atmete gefühlvoller aus, als sie beabsichtigt hatte. »Von Eloise. Sie war tot.«
Svenson seufzte und setzte sich neben sie auf einen Stuhl, wobei ihm das Haar in die Augen fiel.
»In meinen lebt sie. Ein kleiner Trost, wenn ich in wachem Zustand trauere. Trotzdem ist Eloise Dujong in meiner Erinnerung noch in dieser Welt – ihr Lächeln, ihr Geruch, ihre Anteilnahme. So viel ist von ihr geblieben.«
»Haben Sie sie geliebt?« Sie stand mit dem Rücken zum Ofen, das Kleid vorn zusammengerafft, damit es nicht versengte.
»Vielleicht. Der Gedanke ist eine Qual. Sie hat mich nicht geliebt, ich weiß das.«
Miss Temple schüttelte den Kopf. »Aber … sie hat mir gesagt …«
»Celeste, ich bitte Sie. Sie hat Ihre Gefühle klar geäußert.«
Miss Temple sagte nichts. Die dicken Steinmauern umgaben sie mit Schweigen.
»Sie waren mit Chang zusammen?«, fragte der Doktor. »Am Schluss?«
Miss Temple nickte.
»Die Nacht war ein Chaos. Ich erinnere mich an sehr wenig nach dem albernen Duell …«
»Es war nicht albern«, sagte Miss Temple. »Es war sehr mutig.«
»Ich habe Sie rufen hören und dachte, dass irgendetwas mit Chang passiert wäre. Bis zu dem Abend wusste ich nicht, dass es die Contessa war. Auch nicht, dass sie Eloise getötet hatte.«
Svenson hatte sich verändert, als wäre das Blau seiner Augen durch ein Sieb gelaufen. Erneut dachte sie an seine Verwundung – daran, wie frisch und lang die Narbe war und wie die Klinge die Brustwarze des Doktors zerschnitten hatte …
Sie wimmerte leise. Svenson erhob sich halb von seinem Stuhl, aber sie hielt ihn mit einem Kopfschütteln und einem halbherzigen Lächeln zurück. Der Doktor betrachtete sie besorgt.
»Ich war von allem ziemlich abgeschnitten«, sagte er leise. »Am besten erzählen Sie mir so viel Sie können.«
Ihre Geschichte sprudelte hervor, alles, was vorgefallen war, von der Lichtung, wo Eloise gestorben war, bis zum Albermap Crescent – Pfaff, das Verschwinden von Ropp und Jaxon, die roten Briefumschläge, die Gemälde des Comte, das beschriebene Stück Glas. Sie erzählte nichts von ihrer eigenen Qual, den Büchern, die in ihr rumorten, ihrem unnatürlichen Verlangen. Sie erzählte nichts von Chang. Doch während sie sprach, ertappte sie sich dabei, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf die Gesichtszüge des Doktors, die sparsamen Handbewegungen beim Rauchen und das ungewohnte Krächzen in seiner Stimme richtete. Sie fragte sich, wie alt er war – ein Jahrzehnt älter als sie, bestimmt nicht mehr. Sein deutsches Gebaren ließ ihn im Vergleich zu einem Mann wie Chang älter wirken, aber wenn man allein sein Gesicht betrachtete …
Miss Temple, tief in Gedanken versunken, erschrak. Svenson war näher an den Ofen getreten und rieb sich die Hände.
»Mir wird langsam doch kalt.«
»Es ist kalt«, erwiderte Miss Temple und streckte ebenfalls ihre Hände aus. »Der Winter ist der Gast, der niemals geht – den man hinter Bierfässern in der Küche lauern sieht.«
Svenson grinste und schüttelte den Kopf. »Nach allem, was Sie erlebt haben, Celeste, haben Sie sich Ihren Humor bewahrt.«
»Ich bin sicher, ich habe überhaupt keinen Humor. Zu sagen, was man denkt, ist nicht besonders geistreich.«
»Genau das ist es, meine Liebe.«
Miss Temple errötete. Da sie nichts darauf antwortete, kniete sich der Doktor hin und schaufelte mehr Kohlen in den Ofen.
»Mr. Cunsher ist nicht gekommen. Vielleicht versteckt er sich oder wird verfolgt – oder ist gefangen genommen worden, was bedeutet, dass wir nicht hierbleiben können.«
»Wie sollen wir das herausfinden? Wie wollen wir ihn finden, wenn wir gehen?«
»Er wird uns finden, keine Angst …«
»Ich mag Mr. Cunsher nicht.«
»Wir müssen solchen Männern vertrauen. Wie lange hat es gedauert, bis Sie Chang vertraut haben?«
»Gar nicht lange. Ich
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