Traumjaeger und Goldpfote
weitergegeben wurden. Im weiteren Umkreis des Mauertreffs war Borstenmaul der einzige Alt-Sänger, und seine Geschichten waren für das Volk so wichtig wie das Wasser oder wie die Freiheit, zu rennen und zu springen, wie es ihnen gefiel.
Von seinem Platz auf der Mauerkrone beäugte er lange Zeit die Katzen zu seinen Füßen. Das erwartungsvolle Mauzen wurde leiser und ging in ein leises Schnurren über. Einige der jungen Katzen – schrecklich aufgeregt und unfähig stillzusitzen – begannen sich wie wild zu putzen. Borstenmaul schlug dreimal mit dem Schwanz, und dann war es still.
»Wir danken unseren Älteren, die über uns wachen«, begann er. »Wir preisen Tiefklar, deren Auge unserer Jagd Licht gibt. Wir grüßen unsere Beute, weil sie das Jagen angenehm macht.«
»Wir danken. Wir preisen. Wir grüßen.«
»Wir sind das Volk, und heute Nacht sprechen wir mit einer Stimme von unser aller Taten. Wir sind das Volk.«
Unter dem Bann des uralten Rituals wiegten sich die Katzen sanft hin und her. Borstenmaul begann seine Geschichte.
»In den Tagen, da die Erde jung war – als einige der Ersten noch in diesen Gefilden umherstreiften –, herrschte am Hof von Harar Königin Seidenöhrchen, Enkeltochter von Fela Himmeltanz. Und sie war eine gute Königin. Ihre Pfote war ebenso gerecht zum Besten ihres Volkes wie ihre Kralle flink, ihre Feinde zu treffen.
Ihr Sohn und Mitherrscher war Prinz Neunvögel. Er war eine riesige Katze, kraftvoll im Kampf, rasch erzürnt, und ungeachtet seiner jungen Jahre barst er vor Stolz. Man erzählt sich, dass er, ein Kätzchen noch, am Tage, da er seinen Namen erhielt, mit einem einzigen Schlag seiner Tatzen neun Stare zugleich getötet habe. Also wurde er Neunvögel genannt, und der Ruhm seiner Stärke und Taten reichte weit.
Seit dem Tode von Windweiß waren viele, viele Sommer vergangen, und niemand, der zu dieser Zeit am Hofe lebte, hatte jemals einen der Ersten zu Gesicht bekommen. Vor Generationen schon war Feuertatze in die Wildnis gezogen, und viele glaubten, er sei tot oder habe sich seinem Vater und seiner Großmutter im Himmel beigesellt.
Als Geschichten von Neunvögels Stärke und Tapferkeit im Volk umzulaufen begannen, erzählt von Maul zu Ohr, und als Neunvögel anfing, jenen Kriechern Gehör zu schenken, die sich immer dem großen Volk an die Fersen heften, glaubte er mit der Zeit, die Größe der Erstgeborenen in sich zu erkennen.
Eines Tages wurde überall im Welt-Wald erzählt, Neunvögel sei nicht mehr damit zufrieden, Prinzregent an der Seite seiner Mutter zu sein. Es wurde zu einem Treffen aufgerufen, zu dem alles Volk von nah und fern kommen sollte, um zu feiern, zu jagen und zu spielen. Und auf dieser Versammlung wollte er den Königsmantel von Harar für sich beanspruchen – den Tangalur Feuertatze für unantastbar und einzig den Erstgeborenen vorbehalten erklärt hatte –, und Neunvögel wollte sich selbst zum König der Katzen ausrufen.
Und so kam der Tag, und das gesamte Volk versammelte sich am Hof. Während alle ausgelassen tanzten und sangen, dehnte Neunvögel seinen mächtigen Körper in der Sonne und sah zu. Dann erhob er sich und sagte: ›Ich, Neunvögel, stehe heute vor euch, um mit dem Recht des Blutes und der Klaue den Königsmantel zu beanspruchen, der so lange nicht mehr getragenworden ist. Wenn keine Katze unter euch ist, die etwas dagegen einzuwenden hat, dass ich diese uralte Bürde auf mich nehme …‹
In diesem Augenblick gab es ein Geräusch in der Menge und eine sehr alte Katze stand auf. Ihr Fell war überall grau durchschossen – besonders an den Beinen und Pfoten – und am Maul war es schneeweiß.
›Du beanspruchst den Mantel mit dem Recht des Blutes und der Klaue?‹, fragte die alte Katze.
›Das tue ich‹, erwiderte der Prinz.
›Mit welchem Recht des Blutes beanspruchst du die Königswürde?‹
›Mit dem Recht des Blutes von Fela Himmeltanz, das in meinen Adern fließt, du zahnlose alte Memme!‹, gab Neunvögel hitzig zurück und erhob sich von seinem Sitz. Das ganze versammelte Volk flüsterte erregt, als Neunvögel zum
Vaka’az’me
schritt, dem dreiwurzligen Sitz, der den Erstgeborenen geweiht war. Neunvögel hob seinen langen Schwanz und besprühte den
Vaka’az’me
mit seiner Jagdmarke. Und das erregte Flüstern steigerte sich, als die alte Katze vorwärtstrottete.
›Oh Prinz, der du König der Katzen sein möchtest‹, sagte der Alte, ›dein Blut gibt dir vielleicht einen Anspruch, doch wie steht es
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