Traveler - das Finale
um den Strick, der ihr die Luft abschnürte. Und dann, in einer letzten Bewusstseinswelle, durchfluteten unzählige Bilder ihren Kopf. Ihre Mutter im Krankenhausbett. Ein Valentinsgeschenk in der Grundschule. Der Sonnenuntergang an einem jamaikanischen Strand. Und wo war Charlie? Wer würde sich um Charlie kümmern? War sie schon tot? Oder endlich frei?
Nun beobachtete sie niemand mehr.
EINS
A m frühen Abend fegte ein Gewitter übers Land und setzte Berlin unter Wasser. Dicke Regentropfen klatschten auf die Glasdächer der Treibhäuser der Neuen Orangerie von Potsdam. Die Weiden rund um den See wiegten sich im Sturm wie Unterwasserpflanzen, während die Enten sich auf ihrer kleinen Insel dicht zusammendrängten. In den Straßen rund um den Potsdamer Platz geriet der Verkehr ins Stocken, und die elfenbeinfarbigen Taxen hupten einander auf verstopften Kreuzungen an, während die Transporter der Lieferanten vor sich hin knurrten wie große, schwerfällige Tiere.
Der Regen klatschte auf die Windschutzscheiben und ließ die Gesichter der Autofahrer verschwimmen. Die Bürgersteige von Berlin-Mitte waren menschenleer, so dass es schien, als hätten weite Teile der Bevölkerung die Stadt verlassen. Nur die Überwachungskameras waren als stille Wächter zurückgeblieben. Sie nahmen das Bild einer jungen Frau auf, die sich eine Zeitung schützend über den Kopf hielt, als sie vom Eingang eines Bürogebäudes zum wartenden Auto sprang. Die Kameras beobachteten einen Essenslieferanten, der als Serie grobkörniger Schwarz-Weiß-Bilder die Straße entlanggeradelt kam, das nasse Haar über dem verzweifelten Gesicht in die Stirn geklebt und die Beine in hektischem Rhythmus strampelnd, während sein billiger Plastikregenumhang im Wind flatterte.
Auf der Friedrichstraße filmte ein Nummernschildscanner, der auf einem Dach stand, einen schwarzen Mercedes an einer roten Ampel. Das Kennzeichen wurde gespeichert und
automatisch mit der Datenbank abgeglichen, während Michael Corrigan und Mrs. Brewster auf der Rückbank saßen und auf Grün warteten. Mrs. Brewster hatte einen Lippenstift aus ihrer Handtasche geholt und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel der Puderdose. Dieses Verhalten war ganz und gar ungewöhnlich für die amtierende Vorstandsvorsitzende der Bruderschaft. Solange keine Party oder eine andere Veranstaltung anstand, legte Mrs. Brewster auf ihre äußere Erscheinung nur minimalen Wert. Sie war eine Frau, die Tweedkostüme und flache Schuhe bevorzugte und deren einziges Zugeständnis an die Eitelkeit darin bestand, sich das Haar kastanienbraun zu tönen.
»Mein Gott, sehe ich müde aus«, seufzte sie. »Es wird mich einige Mühe kosten, das Abendessen mit Hazelton und seinen Freunden zu überstehen.«
»Wenn Sie möchten, übernehme ich das Reden.«
»Michael, das wäre wundervoll. Aber es ist nicht nötig. Unsere Pläne haben sich geändert.«
Mit übertriebener Entschlusskraft ließ Mrs. Brewster die Puderdose in die Handtasche zurückfallen, um dann eine Sonnenbrille aufzusetzen. Die dunklen Gläser verdeckten ihre Augen und Wangenknochen wie eine Halbmaske.
»Terry Dawson hat mir eben eine E-Mail aus unserem Forschungszentrum in New York geschickt«, sagte sie. »Der neue Quantencomputer ist fertig, und Dawson hat die Anlage bereits getestet. Ich möchte, dass Sie morgen Nachmittag, wenn das System voll einsatzfähig ist, vor Ort sind.«
»Vielleicht ließe sich das noch für einige Tage verschieben, damit ich an der Vorstandssitzung teilnehmen kann?«
»Das Projekt Crossover ist um einiges wichtiger als jede Sitzung. Der erste Quantencomputer hat uns ermöglicht, mit einer höher entwickelten Zivilisation in Kontakt zu treten und wichtige Daten abzugreifen. Dr. Dawson möchte, dass Sie dabei sind, wenn der Kontakt wiederhergestellt ist.«
Der Mercedes bog um eine weitere Ecke. Michael starrte Mrs. Brewster noch sekundenlang an, aber die Sonnenbrille und das trübe Licht verhinderten, dass er ihre Gedanken erraten konnte. Erzählte sie ihm die Wahrheit oder versuchte sie, ihn vom Rest der Bruderschaft zu isolieren? Ihr Mund und ihre Kopfhaltung verrieten Anspannung, aber das war nicht ungewöhnlich für sie.
»Ich glaube, das Einfachste wäre, Dawson per Videokonferenz dazuzuschalten«, sagte Michael.
»Ich möchte, dass Sie sich genauestens über das Projekt informieren, und das geht nur, wenn Sie im Labor sind. Ihre Koffer sind bereits gepackt und stehen im Hotel zur Abholung bereit. Der Charterjet wird
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