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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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produzierten Toxine erhöhten die neurale Energie. Als die Schwester den Beutel hochhob, schwappte das dickflüssige, türkisblaue 3B3 hin und her.
    Sie ersetzte die Kochsalzlösung durch den Infusionsbeutel, und eine farbige Linie schoss den Plastikschlauch hinunter und in die Kanüle in Michaels Arm. Richardson und Dr. Lau starrten ihn an, als erwarteten sie von ihm, dass er jeden Moment in eine andere Dimension entschweben würde.
    »Wie fühlen Sie sich?«, fragte Richardson.
    »Normal. Wie lange dauert es, bis das Zeug wirkt?«
    »Das wissen wir nicht.«
    »Herzfrequenz leicht erhöht«, verkündete Dr. Lau. »Atmung unverändert.«
    Bemüht, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, blickte Michael ein paar Minuten lang zur Decke empor und schloss dann die Augen. Vielleicht war er überhaupt kein Traveler, oder das Wundermittel wirkte nicht. All die viele Arbeit und das viele Geld waren umsonst investiert worden.
    »Michael?«
    Er öffnete die Augen. Richardson fixierte ihn. Es war immer noch kühl im Raum, aber auf der Stirn des Neurologen standen Schweißperlen.
    »Fangen Sie bitte an, von hundert an rückwärts zu zählen.«
    »Das hab ich doch schon getan.«
    »Wir wollen zur Grundlinie zurückkehren.«

    »Vergessen Sie’s. Das bringt ja doch nichts.«
    Michael bewegte seinen linken Arm und sah etwas Außergewöhnliches. Eine Hand, die aus lauter kleinen Lichtpunkten bestand, löste sich von seiner materiellen Hand wie ein Geist, der aus einem verschlossenen Schrank auftaucht. Seine materielle Hand fiel leblos auf den Tisch zurück, die Geisterhand blieb jedoch, wo sie war.
    Er wusste sofort, dass dieses Phänomen – diese Erscheinung  – schon immer ein Teil von ihm, von seinem Körper gewesen war. Die Geisterhand erinnerte ihn an die laienhaften Zeichnungen von Sternbildern wie dem Zwilling oder Schützen. Seine Hand bestand aus lauter kleinen Sternen, verbunden durch dünne, kaum sichtbare Leuchtfäden. Er konnte die Geisterhand nicht auf dieselbe Weise bewegen wie seinen übrigen Körper. Wenn er in Gedanken Befehle gab – beweg dich, Daumen, ballt euch zusammen, Finger –, passierte gar nichts. Er musste sich vorstellen, was die Hand in Kürze getan haben würde, und einen Moment später reagierte sie dementsprechend. Es war knifflig. Alles geschah mit leichter Verzögerung, so als bewegte man sich unter Wasser.
    »Was sagen Sie?«, fragte er Richardson.
    »Zählen Sie bitte rückwärts.«
    »Was sagen Sie zu meiner Hand? Sehen Sie denn nicht, was passiert ist?«
    Richardson schüttelte den Kopf. »Ihre Hände liegen beide auf dem Untersuchungstisch. Können Sie beschreiben, was Sie sehen?«
    Michael hatte Probleme mit dem Reden. Es ging dabei nicht nur um die Bewegungen von Zunge und Lippen, sondern um die mühsame, ihm ungewohnt erscheinende Aufgabe, Gedanken in Worte zu fassen. Der Verstand war zu schnell für die Worte. Viel zu schnell.
    »Ich – glaube – dass …« Er legte eine – wie ihm schien lange  – Pause ein. »Es ist keine Halluzination.«

    »Beschreiben Sie bitte alles.«
    »Es war immer in mir drin.«
    »Beschreiben Sie, was Sie sehen.«
    »Sie – sind – blind.«
    Michaels Verärgerung wurde stärker, verwandelte sich in Zorn, und er drückte sich mit den Unterarmen hoch, um sich aufzusetzen. Es kam ihm vor, als würde er eine alte, brüchige Hülle wie eine Kapsel aus stumpf gewordenem Glas durchstoßen. Dann stellte er fest, dass der obere Teil seines Geisterkörpers senkrecht aufragte, sein materieller Körper jedoch liegen geblieben war. Wieso sahen die anderen das nicht? Es war doch deutlich zu erkennen. Aber Richardson starrte weiterhin den Körper auf dem Tisch an, so als wäre er eine mathematische Gleichung, die man nur durch Anschauen dazu bringen konnte, sich von selbst aufzulösen.
    »Keine Vitalfunktionen mehr«, sagte Lau. »Entweder er ist tot oder –«
    »Wovon reden Sie?« blaffte Richardson ihn an.
    »Moment mal. Eben hat sein Herz geschlagen. Ein einziges Mal. Und seine Lungenflügel bewegen sich. Er befindet sich in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit, wie jemand, der unter Schneemassen begraben liegt.« Lau blickte auf den Überwachungsmonitor. »Langsam. Alle Organe arbeiten sehr langsam. Aber er lebt noch.«
    Richardson beugte sich hinab, bis seine Lippen nur noch wenige Zentimeter von Michaels linkem Ohr entfernt waren. »Hören Sie mich, Michael? Hören Sie …«
    Aber es war so schwierig, der menschlichen Stimme zu

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