Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
am Himmel? Befand er sich in einem anderen Universum mit anderen Gesetzmäßigkeiten für Leben und Sterben? Er versuchte, darüber nachzudenken, doch gleichzeitig wurde ihm seine Situation an sich, der Umstand, dass er allein auf dem offenen Meer schwamm und kein Land in Sicht war, immer stärker bewusst. Nur keine Panik, dachte er. Du kannst es lange so aushalten.
    Michael rief sich alte Rock-’n’-Roll-Songs ins Gedächtnis und sang sie lauthals. Er zählte rückwärts und sagte Kinderreime auf – Hauptsache, es gab ihm das Gefühl, am Leben zu sein. Atme ein. Atme aus. Plantsche. Dreh dich um. Plantsche noch einmal. Aber jedes seiner Geräusche wurde augenblicklich von der Stille ringsum geschluckt. War er tot? Vielleicht war er ja tot. Vielleicht versuchte Richardson genau in diesem Moment, seinen schlaffen Körper wiederzubeleben. Oder vielleicht war er noch nicht ganz tot, und wenn er es zuließe, dass er unterging, würde das letzte bisschen Leben aus seinem Körper gespült werden.
    Verängstigt entschied er sich aufs Geratewohl für eine Richtung und schwamm los. Erst kraulte er, und dann, als seine Arme müde wurden, wechselte er in die Rückenlage. Michael konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit bereits verstrichen war. Fünf Minuten? Fünf Stunden? Doch als er innehielt und sich wieder in die Höhe reckte, sah er dieselbe Horizontlinie wie zuvor. Dieselben Sonnen. Und den gelben Himmel. Er ließ sich unter die Meeresoberfläche sinken, kam rasch wieder hoch, spuckte Wasser und schrie.

    Michael lag mit dem Gesicht nach oben da, drückte das Rückgrat durch und schloss die Augen. Die Eintönigkeit seiner Umgebung, ihre Unveränderlichkeit legten eigentlich die Vermutung nahe, dass sie ein Phantasiegebilde war. Aber in seinen Träumen tauchten sonst immer Gabriel und die anderen Menschen auf, die er kannte. Die totale Einsamkeit an diesem Ort war merkwürdig und beunruhigend. Wenn dies ein Traum war, dann müsste er eigentlich einem Piratenschiff oder einem Motorboot voller Frauen begegnen.
    Plötzlich spürte er, wie irgendetwas mit einer raschen, schlängelnden Bewegung eines seiner Beine streifte. Michael schwamm hektisch los. Beinschlag. Ausgreifen. Armzug. Er dachte einzig und allein daran, möglichst schnell von dem wegzukommen, was ihn berührt hatte. Wasser drang ihm in die Nase, aber er blies es mit Gewalt wieder hinaus. Er schloss die Augen, schwamm blind, mit verzweifelten paddelnden Bewegungen. Halt an. Warte. Das Geräusch seines eigenen Atems. Dann ergriff ihn erneut die Furcht, und wieder schwamm er in Richtung des Horizonts, ohne ihm je näher zu kommen.
    Zeit verging. Traumzeit. Raumzeit. Er war sich über nichts mehr sicher. Dennoch hörte er auf zu schwimmen, drehte sich auf den Rücken, rang erschöpft nach Luft. Alle Gedanken hatten sich verflüchtigt, er war nur noch von dem Wunsch erfüllt zu atmen. Wie ein niederes Lebewesen konzentrierte er sich bloß auf diesen einen Vorgang, den er in seinem früheren Leben als simplen Automatismus betrachtet hatte. Nachdem wieder Zeit vergangen war, wurde er sich eines neuen Sinneseindrucks bewusst. Es kam ihm vor, als triebe er in eine bestimmte Richtung, würde zu einer Stelle am Horizont gezogen. Und die Strömung wurde nach und nach stärker.
    Michael hörte, wie Wasser an seinen Ohren vorbeifloss, und zugleich nahm er ein leises Tosen wahr, wie von einem weit entfernten Wasserfall. Er brachte sich in eine senkrechte Position und hob den Kopf, um festzustellen, wohin er trieb.
In der Ferne stieg ein feiner Nebel auf, und kleine Wellen erhoben sich über die Wasseroberfläche. Die Strömung war inzwischen sehr stark, und es fiel ihm schwer, gegen sie anzuschwimmen. Das Tosen verstärkte sich, bis Michael seine eigene Stimme nicht mehr hörte. Er streckte den rechten Arm in die Luft, als hoffte er, dass ein riesiger Vogel oder ein Engel auftauchte, um ihn vor dem Verderben zu retten. Die Strömung zog ihn weiter, und plötzlich kam es ihm so vor, als sackte das Meer in sich zusammen.
    Er sank unter Wasser, arbeitete sich aber einen Augenblick später wieder zum Sonnenlicht empor. Er befand sich am Rand eines gigantischen Whirlpools mit den Ausmaßen eines Mondkraters. Das grüne Wasser bildete einen wirbelnden dunklen Strudel. Michael wurde von der Strömung mitgerissen, nach unten, weg vom Licht. Streng dich an, sagte er sich. Nicht aufgeben. Etwas in ihm würde für immer zerstört sein, wenn er es zuließ, dass das Wasser in seinen

Weitere Kostenlose Bücher