Traveler - Roman
Ausrüstung überprüfte. Der Vorgang an sich bereitete ihm Freude, hatte für ihn etwas Meditatives. Er zog einen Fliegeranzug über seine Kleidung; kontrollierte seine Thermohandschuhe, seinen Helm und seine Schutzbrille; dann checkte er Haupt-und Reservefallschirm, die Gurte und den Trenngriff. All diese Dinge wirkten auf dem Boden völlig unspektakulär, aber sie würden sich verwandeln, sobald er hoch oben über der Erde ins Nichts stürzte.
Die Koreaner schossen noch ein paar Fotos, dann kletterten alle in das enge Flugzeug. Die Männer saßen in Zweierreihen hintereinander und stöpselten ihre Sauerstoffschläuche in die davor vorgesehenen Anschlüsse neben den Sitzen. Nick sprach ein paar Worte mit dem Piloten, dann hob das Flugzeug ab und begann mit dem langsamen Aufstieg auf zehntausend
Meter. Wegen der Sauerstoffmasken konnte man sich nicht unterhalten, was Gabriel nur recht war. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge, die vom sanften Zischen des Sauerstoffs in seinem Mundstück begleitet wurden.
Gabriel verabscheute die Schwerkraft und die Beschränkungen durch seinen Körper. Die Bewegungen seiner Lunge und seine pochenden Herzschläge kamen ihm wie mechanische Funktionen einer trägen Maschine vor. Einmal hatte er versucht, es Michael zu erklären, aber es war ihm dabei so vorgekommen, als sprächen sie verschiedene Sprachen. »Niemand von uns hat darum gebeten, geboren zu werden, aber jetzt sind wir hier«, hatte Michael entgegnet. »Wir müssen uns nur eine einzige Frage beantworten: Stehen wir am Fuß des Berges oder auf dem Gipfel?«
»Vielleicht ist der Berg ganz unwichtig.«
Michael hatte ihn belustigt angesehen. »Wir werden beide irgendwann auf dem Gipfel sein. Das ist mein Ziel, und ich werde dich mitnehmen.«
Oberhalb von sechstausend Metern bildeten sich Eiskristalle an den Innenwänden des Flugzeugs. Gabriel machte die Augen auf und beobachtete Nick, der durch den schmalen Gang zum hinteren Ende des Flugzeugs ging und die Tür ein paar Zentimeter weit öffnete. Als der kalte Wind in die Kabine drang, spürte Gabriel, wie die Aufregung in ihm hochstieg. Gleich war es so weit: der Augenblick des Absprungs.
Nick blickte nach unten auf der Suche nach der Absprungzone und redete gleichzeitig über Funk mit dem Piloten. Schließlich machte er den anderen ein Zeichen, dass es nicht mehr lange dauern werde. Die Männer setzten ihre Schutzbrillen auf und zogen die Fallschirmgurte fest. Zwei oder drei Minuten vergingen. Nick winkte erneut und tippte an seine Sauerstoffmaske. Jeder der Männer trug an einem Bein eine kleine Sauerstoffflasche. Gabriel drehte am Verschluss seiner
Flasche, und die daran befestigte Maske ruckte einmal kurz. Nachdem er die Sauerstoffmaske gewechselt hatte, war er bereit.
Ihre Flughöhe entsprach der Höhe des Mount Everest, und es war bitterkalt. Womöglich hatten die Koreaner vorgehabt, an der Tür innezuhalten, um dann besonders effektvoll abzuspringen, aber Nick wollte sichergehen, dass alle die Sicherheitszone erreichten, ehe der Sauerstoff aus den Flaschen aufgebraucht war. Einer nach dem anderen standen die Koreaner auf, tappten zum Ausgang und stürzten sich hinaus. Gabriel hatte sich auf den Sitz direkt hinter dem Piloten gesetzt, damit er als Letzter springen würde. Er ging mit langsamen Schritten und tat so, als müsste er seinen Gurt neu einstellen, denn er wollte während des Flugs zur Erde allein sein. Als er an der Tür stand, schindete er noch ein paar Sekunden heraus, indem er Nick mit hochgerecktem Daumen ansah. Dann sprang er aus dem Flugzeug und fiel in rasender Geschwindigkeit Richtung Erde.
Gabriel drehte sich, sodass er nichts als den Himmel über sich sah. Der Himmel war dunkelblau, dunkler als er je tagsüber von der Erde aus schien. Ein Mitternachtsblau mit einem fernen Lichtpunkt: die Venus, Göttin der Liebe. Ein Stück bloßer Haut auf einer seiner Wangen begann zu brennen, aber er ignorierte den Schmerz, konzentrierte sich stattdessen auf den Himmel, auf die pure Reinheit, die ihn umgab.
Im alltäglichen Leben vergingen zwei Minuten schnell: so lange dauerten eine Werbeunterbrechung im Fernsehen, die Hälfte eines Popsongs oder die Zeit, die man brauchte, um auf einem dicht befahrenen Highway einen Kilometer zurückzulegen. Aber während des freien Falls dehnte sich jede Sekunde aus, so wie ein trockener Schwamm, der ins Wasser geworfen wird. Gabriel passierte eine Schicht warmer Luft, dann kehrte die Kälte
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