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Doktor Proktors Zeitbadewanne

Doktor Proktors Zeitbadewanne

Titel: Doktor Proktors Zeitbadewanne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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1 . Kapite l
    Eine Postkarte aus Paris
    n der Turnhalle herrschte tiefe Stille. Kein Tönchen war zu hören von den zwölf braunen Sprossenwänden, dem alten, mit rissigem Leder bespannten Turnpferd oder den acht grauen, verschlissenen Seilen, die reglos von der Decke herabhingen. Oder von den sechzehn Jungen und Mädchen, den Mitgliedern der schuleigenen Blaskapelle, die jetzt gebannt auf Dirigent Madsen starrten.
    »Fertig . . .«, rief Madsen, hob den Taktstock und schielte sie durch die dunklen Gläser seiner Pilotensonnenbrille an. Madsen fürchtete sich schon vor dem ersten Ton, sein Blick suchte hoffnungsvoll nach Bulle. Er wusste, dass die anderen Mitglieder der Schulkapelle seinen rothaarigen Trompeter neckten, weil er so was von winzig war. Anders als sie aber war der kleine Knirps immerhin musikalisch und konnte sie vielleicht retten. Da Madsen Bulle nicht entdeckte, richtete er seinen Blick auf Bulles einzige Freundin – Lise mit der Klarinette. Er wusste, sie war die Einzige in der Schulkapelle, die zu Hause übte. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung.
    »Fertig...«
    Alle setzten die Instrumente an die Lippen. Es war so still, dass von draußen die Geräusche des warmen Oktobernachmittags zu hören waren: Vogelgezwitscher, ein Rasenmäher und das Lachen spielender Rotzgören. Doch hier in der Turnhalle war es finster. Und es sollte noch finsterer werden.
    »Los!«, schrie Madsen und vollführte einen majestätischen Bogen mit seinem Taktstock.
    Erst passierte gar nichts und zu hören waren nach wie vor nur Vögel, Rasenmäher und Rotzgören. Dann blökte zaghaft eine Trompete, piepste verhalten eine Klarinette und wummste ein tastender Schlag auf der Pauke. Dann schnarrte die Trommel so überraschend los, dass der Junge am Waldhorn erschrak und sein Instrument einen Pups von sich gab. Ganz weit hinten schnaubte etwas Dickes, das Lise an einen Blauwal erinnerte, der nach einer geschlagenen Woche unter Wasser erstmals wieder an die Oberfläche kommt. Wirkliche Töne waren in all dem Gepruste jedoch noch nicht zu vernehmen und Madsens Gesicht lief bereits rot an, was auf einen baldigen Wutausbruch hindeutete.
    »Drei – vier!« Madsen schwang den Taktstock, als wäre der eine Peitsche und die Schulkapelle die Rudersklaven auf einer altrömischen Galeere. »Na los, verflucht noch mal! Spielt! Das soll doch nicht im Ernst die Marseillaise sein! Lasst was hören!«
    Aber nichts war zu hören, das der Marseillaise, der französischen Nationalhymne, auch nur entfernt glich. Die Gesichter vor Madsen starrten verzweifelt in die Noten oder kniffen die Augen zusammen, als ob sie auf dem Klo sitzen und drücken würden.
    Madsen gab es auf. Als die Tuba endlich einen tiefen, einsamen Rülpser zustande brachte, ließ er die Arme sinken.
    »Stopp, stopp!«, rief Madsen und wartete, dass die Tuba wieder zu Atem kam. »Wenn die Franzosen euch hören würden, würden sie euch zuerst köpfen und dann verbrennen! Erweist der Marseillaise gefälligst Respekt!«
    Während Madsen weitermeckerte, lehnte Lise sich zu dem Stuhl neben ihr und flüsterte: »Ich hab Doktor Proktors Karte dabei. Irgendwas stimmt nicht mit der.«
    Die Stimme, die ihr antwortete, kam hinter einer verbeulten Trompete hervor: »Wird eine ganz gewöhnliche Postkarte sein, wenn du mich fragst. ›Liebe Lise, lieber Bulle, herzliche Grüße aus Paris, euer Doktor Proktor‹. So in der Art, oder?«
    »Nein, ganz...«
    »Das ist dann wirklich eine ungewöhnlich gewöhnliche Postkarte, Lise. Merkwürdig ist nur, dass so ein absolut ungewöhnlicher Mensch wie Doktor Proktor eine so gewöhnliche Karte schreibt.«
    Madsens dröhnende Stimme unterbrach sie: »Bulle! Bist du hier?«
    »Jaaaaaawoll, Herr Hauptmann!«, tönte es hinter der zerbeulten Trompete hervor.
    »Hoch mit dir, dass wir dich sehen können!«
    »Wird gemacht, Herr Oberkommandeur der lieblich säuselnden Musik und aller Töne des Universums!«
    Und ein kleiner, rothaariger Junge mit großen Sommersprossen und breitem Grinsen kam hinter dem Notenständer hervor und hüpfte auf den Stuhl. Übrigens war er nicht nur klein, sondern winzig klein. Und sein Haar war nicht nur rot, sondern ritzeratzerot. Und sein Grinsen war nicht nur breit, sondern es teilte seinen kleinen Kopf fast in zwei Hälften. Und seine Sommersprossen waren nicht nur groß, sondern . . . ach doch, stimmt, sie waren nur groß.
    »Spiel uns die Marseillaise vor, Bulle!«, polterte Madsen, »und zwar so, wie es sich

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