Trieb
Übel. Aber: Die Jungs, die sich auf dieses perfide Spiel der Freier einlassen, geraten, ohne dass sie es merken, in eine Form der Abhängigkeit. Meist verstricken sie sich in diese Abhängigkeiten, sehen sie sich plötzlich – sofern sie nicht zuvor bereits von Päderasten eingeführt wurden – mit Problemen konfrontiert: Sie erleben ihr Coming Out als Schwuler, üben homosexuelle Praktiken aus, mit denen sie nicht klarkommen, weil sie eigentlich heterosexuell sind. Sie bekommen Krankheiten, psychische Leiden oder erleben Gewalt und Missbrauch, vor denen sie ursprünglich geflüchtet sind. Nicht zuletzt die fehlende Stricher- oder Prostitutiertenidentität macht es für die Jungs schwierig, sich an die Beratungsstelle und Hilfsprojekte zu wenden.
Was es auch für die Polizei schwierig macht zu ermitteln. Grundsätzlich macht sich ein Freier zwar strafbar, wenn er eine sexuelle Dienstleistung von einem minderjährigen Jugendlichen kauft. »In der Stricherszene machen sich daher gut 90 Prozent der Freier per se strafbar«, so der Polizist Matthias A. Allerdings muss der Gesetzgeber in jedem Einzelfall nachweisen müsste, dass in einer Kneipe eine sexuelle Dienstleistung gekauft worden sei. Die Frage ist: Wo beginnt der Kauf einer Dienstleistung? Ist es bereits die Cola, die der Junge spendiert bekommt? Oder das Geld, das den Besitzer wechselt? Oder nur die mündliche Vereinbarung? Es gibt keine Richtlinien oder Ausführungsvorschriften.
So oder so, der Stricher lässt auf den Freier nichts kommen, spricht von ihm als
mein Freund
. Thomas Nebel: »Bis diese Konstellation in die Hose geht, weil es sich dabei um eine knallharte Geschäftsbeziehung handelt: Der Junge bekommt Geld für Arbeit, Unterkunft, Logis, Klamotten, dafür gibt er eine sexuelle Dienstleistung. Und wenn der Junge das nicht mehr will oder der Freier einen jüngeren Jungen will, dann fliegt das auseinander. Dann ist nichts mehr mit Vater.«
Der Mann, der eigentlich Freund oder Vaterfigur ist, lässt sie fallen. Wieder stehen die Jungs am Straßenrand und warten darauf, dass ein neuer Mann sie anspricht, damit sie überleben können. Rainer Ulfers: »Viele gehen auf den Strich, damit sie nicht kriminell werden müssen.«
Ein Teufelskreis, in dem unweigerlich auch Alkohol, Zigaretten und Drogen eine Rolle spielen. Karin Fink: »Wir haben hier Leute, die LSD , Kokain, Crack, Ecstasy, Shit, Gras, auch Alkohol konsumieren ...«
Rainer Ulfers: »Der Mehrfachdrogenkonsum von Kokain, Ecstasy und Designerdrogen hat zugenommen. Es gibt kaum einen Stricher, der nicht in irgendeiner Form Drogen, einschließlich Alkohol, konsumiert. Vor ungefähr vier, fünf Jahren tauchten die ersten Crack-Raucher auf. Das ist eine Gruppe von Schwerstabhängigen, die durch ihre Nicht-Ansprechbarkeit und ein hohes Aggressionspotential von uns fast nicht mehr zu erreichen ist.«
Karin Fink: »Ich glaube, vieles davon ist auch verantwortlich dafür, dass die Brutalität in der Szene zugenommen hat.«
Zuhälter dagegen gibt es in Stricherkreisen selten. Obwohl es durchaus Freier gibt, die Jungs anschaffen schicken. Das aber meist aus anderen Beweggründen. Der klassische Freier ist, so ergaben Studien, arbeitslos oder Sozialhilfeempfänger. Wenn er einen Jungen bei sich aufnimmt, dann belastet es den Etat. Insofern ist es zwangsläufig, dass er den Jungen drangsaliert. Andere Männer kassieren Standgeld dafür, dass Jungs am Bahnhof anschaffen dürfen. Wieder andere verlangen zehn Euro, dass Stricher eine Stricherkneipe betreten dürfen. Es gibt auch ein Abziehersystem
.
Mit 18, 19 Jahren sind die Jungs zu alt für die Szene, und es beginnt der Ausstieg
,
»da sonst für sie mit der Tätigkeit nichts mehr zu verdienen ist. Sie werden älter und sind für die Freier uninteressant«, weiß Michael Weiße, Diakon beim Strichertreff Café Strichpunkt in Stuttgart.
Einfach ist das nicht, denn viele der Stricher haben keinen Schulabschluss, keine Ausbildung. Den wenigsten gelingt es, sich als Callboy zu professionalisieren. Was nicht einfach ist, denn dazu gehört wiederum das Bewusstsein, schwule Klientel zu bedienen. Schwule Sexualität ist jedoch eine andere Form der Sexualität, als die, die Jungs in den Pädo-Kreisen bzw. als Stricher bisher praktizierten.
»Wir erleben leider sehr viele Jungs, die es nicht schaffen – aus den verschiedensten Gründen, meist weil die Anforderungen zu hoch sind oder falsche Erwartungen an das ›normale Leben‹ geknüpft werden«,
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