Tristan
gemeinsamen Tod. Nun sind sie für immer vereint.«
Ich glaube an solche Legenden, schrieb Courvenal nach der Zusammenfassung der correspondence in sein Heft, denn aus ihnen besteht unser Leben. Wir erzählen uns selbst, was wahr sein soll, und lassen aus, was wir uns selbst nicht erklären können oder in unsere Wahrheit nicht hineinpasst.
Ich habe mir vorgenommen, die Legende von Tristan und Isolde aufzuschreiben, viel mehr werde ich in meinem Leben nicht mehr tun können. Bruder Elmar ist dagegen, strenuus!, aufs Entschiedenste!, wie er hinzusetzt. Er denkt, wir sollten unser Dasein für Gott aufbewahren. Doch was ist, wenn ich nicht mehr sein werde? Dann versickert das Unwiederholbare, das mir begegnet ist, im Nichts.
Courvenal setzte die Feder ab, überlegte und trank einen Schluck aus dem Becher, den Benedictus ihm, um ihn nicht zu stören, schweigend auf den Tisch gestellt hatte. Er hatte auch ein Körbchen mit Brot und zwei Scheiben saftigem Ziegenkäse gebracht, außerdem, da es Nacht zu werden begann, zwei Lämpchen entzündet und es im Weggehen nicht lassen können, bei einem kurzen Halt an der Tür in den Raum zu flüstern: »Lass dich nicht aufhalten, Bruder, und schreibe auf, was nur du für richtig hältst. Denk nicht an die Welt, die ein falsches Urteil darüber fällen könnte!«
Courvenal horchte auf: die Welt, die Anderen, die Urteile, das Richtige - mit dem Streit, der in diesen Worten lag, wollte er seine memoria beginnen. Er zog einen fetten Strich unter das bisher Geschriebene und entschied, das Weitere in Versen zu verfassen, damit sie - wie er am Rand notierte - auch vorgetragen werden können an den Höfen, wenn die Herren und ihre frowen am Kamin sitzen und sich den Rücken wärmen, während draußen ihr Volk … Hier unterbrach er seine Gedanken, zog über eine neue Seite mit einem geraden Brettchen als Unterlage und einem feinen Kohlestift dünne Linien in gleichem Abstand, trennte die Zeilen in der Mitte der Horizontale mit zwei parallel laufenden Senkrechten und setzte über den Blattanfang in Kapitälchen den Namen Tristan. Er nahm einen Schluck aus dem Becher, schmeckte den sauren Fruchtwein, der ihm den Mund zusammenzog, brach ein Stück Brot ab, kaute es, schaute in die sanft im Luftzug hin und her wippenden Flammen der Lämpchen und begann, in der ersten, linken Spalte die Worte zu schreiben:
Es gibt in dieser Welt ein Ungetüm
Das jedem, der nur reine Kunst und Freiheit will
Mit erhobnem Finger sagt: Sei still!
Es ist, als ob, wer alles besser weiß
Darüber richtet, was für Menschen auserkoren,
Lesenswert, oder für immer sei verloren
Es ist, als ob da eine einzige Person entscheidet
Was schlecht und gut sei, ohne zu bedenken
Wie viel uns unsre Dichter davon schenken
Sie schreiben nicht, was alle hören möchten
Sie sind gefangen in Legenden und im Leben
Das leiht zwar Gutes, kann auch Schlechtes geben
Kunst kann widerspenstig, muss nicht heilend sein
Doch heilt sie den, der suchend sieht,
Und ist wie eine Blume, die auch ohne Wasser blüht
Heut gibt es viele, die nur an den Vorteil denken
Und Blumen, die sie züchten, gern verschenken
Und dabei glauben, sie könnten Zeiten lenken
Sie tun’s vielleicht, und eine Zeit lang sind sie König
Kunst aber, abhängig von Lob und Eigensucht
Ist eine falsche Kunst, der fehlt, was Kunst ist, nämlich Lebenslust
Courvenal hielt im Schreiben inne, weil eines der Lämpchen zu flackern begann. Er sah zu, wie es noch eine Weile vor sich hin blakte, dann verlosch es. Daher rückte er das übrig gebliebene Licht näher an die Seite heran, tauchte die Feder in die Tinte und fuhr fort:
Es gibt über den Fluss des Lebens nur einen einz’gen Steg
Der ist beschwerlich, die Brücke der Vollkommenheit
Wer schnell hinüberwill, der sucht selbstsüchtig Streit
Und vergeudet seine und auch meine Zeit
Denn Kunst will die sein, die in unsrer Seele bleibt
Und nicht nur das, was uns die Ze
Plötzlich, beim Ausziehen des Bogens im e, verlosch wie von einem Windhauch gedrückt mit einem Schlag auch die Flamme des zweiten Lämpchens. Courvenal fand sich mit einem Mal von tiefer Dunkelheit umgeben. Er überlegte kurz, ob er die beiden letzten Worte noch auf das Papyrus ins Schwarze hineinkritzeln sollte, um den Vers zu Ende zu bringen. Doch sicher würde er dann in der Zeile verrutschen, und das ganze Blatt käme in Gefahr, verunstaltet zu werden.
Er legte die Feder beiseite, stand vom Tisch auf und tastete sich an den rauen
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