Trümmermörder
den endlosen Menschenstrom auf den Bahnsteigen gemischt, hatte sich unter all den Hamburgern auf Hamsterfahrten ins Umland und unter den heimkehrenden Soldaten umgehört. Hatte nach einem Karl Stave gefragt, flüsternd, zögerlich.
Karl, der sich im April 1945 als siebzehnjähriger Gymnasiast freiwillig zu einer Einheit an der Ostfront gemeldet hatte, die zu jenem Zeitpunkt schon in den Vororten von Berlin verlief. Karl, der seine Mutter verloren und seinen Vater als »lau« und »undeutsch« verachtet hatte. Karl, der seit dem Kampf um die Reichshauptstadt verschollen war, ein Phantom im Niemandsreich zwischen Tod und Leben, vielleicht gefallen, vielleicht kriegsgefangen von der Roten Armee, vielleicht irgendwo auf der Flucht, untergetaucht, mit falschem Namen. Aber hätte er sich in diesem Fall nicht inzwischen trotz ihrer Streitereien bei seinem Vater gemeldet?
Stave war herumgegangen, hatte ausgemergelte Gestalten in viel zu weiten Mänteln angesprochen, Männer mit dem Russlandgesicht, hatte ein speckiges Foto seines Jungen gezeigt. Kopfschütteln, müde Gesten. Endlich einer, der behauptete, etwas zu wissen. Stave hatte ihm seinen letzten Kaffee angeboten und dann gehört, dass ein Karl Stave in Workuta sei, in einem Straflager, zumindest jemand, der dem Jungen auf diesem Bild einmal ähnlich gesehen haben könnte und der Karl hieß mit Vornamen, vielleicht, und der noch immer dort eingesperrt sei, vielleicht, vielleicht auch nicht.
Plötzlich drei Schläge an der Tür, die Stave aus seinen Gedanken aufschrecken lassen. Die Sicherung der Klingel hat der Oberinspektor herausgedreht, das spart ein paar Milliwatt Strom.
Für einen Augenblick die absurde Hoffnung, es könnte Karl sein, der zu so früher Stunde anklopft. Dann zwingt sich Stave zur Disziplin: Lass dich nicht gehen, ermahnt er sich.
Stave ist Anfang vierzig, hager, die Augen graublau, mit kurzgeschorenen, blonden Haaren, in denen die ersten grauen Strähnen kaum auffallen. Er eilt zur Tür. Das linke Bein schmerzt, wie immer im Winter. Seit der Verletzung in jener Nacht 1943 ist das Fußgelenk steif. Stave hinkt leicht, sosehr er auch mit verbissener Wut gegen diese Verkrüppelung ankämpft, sich zu Dauerläufen, Dehnübungen, ja sogar – wenn die Schulzes die Wohnung darunter verlassen haben – zum Seilspringen zwingt.
Im Türrahmen steht ein Schupo mit Tschako, dem zylinderförmig aufragenden Schutzhelm, mehr kann Stave zunächst nicht erkennen. Das Treppenhaus ist düster, seit jemand alle Glühbirnen der Beleuchtung gestohlen hat. Der Polizist muss sich die vier Stockwerke hinaufgetastet haben.
»Morgen, Herr Oberinspektor«, sagt er. Seine Stimme klingt jung, sie zittert leicht vor Aufregung. »Wir haben eine Tote. Sie sollen sofort kommen.«
»Gut«, antwortet Stave mechanisch, bevor ihm klar wird, wie unpassend das klingt.
Gefühle? Er hat in den letzten Jahren des Krieges viel zu viele verstümmelte Leichen gesehen – darunter die seiner eigenen Frau –, als dass ihn die Nachricht von einem ermordeten Menschen schockieren würde. Erregung, das ja – die Erregung des Jägers, der die flüchtige Spur eines wilden Tieres aufnimmt.
»Wie heißen Sie?«, fragt er den Schupo, während er sich den schweren Wollmantel überzieht und nach seinem Hut greift.
»Ruge. Hauptpolizist Heinrich Ruge.«
Stave blickt auf die blaue Uniform, die metallene Dienstmarke mit Nummer links auf der Brust. Noch eine Neuerung der Briten, die alle deutschen Polizisten hassen: die vierstellige Nummer auf dem Herzen. Eine glänzende Zielscheibe für jeden Verbrecher mit Pistole. Der Beamte, dem diese Uniform viel zu groß ist, ist schmal und jung, kaum älter als Staves Sohn.
Die Briten haben nach dem Einmarsch im Mai 1945 Hunderte Polizisten entlassen – jeden, der bei der Gestapo war, der hohe Funktionen hatte, der irgendwie politisch aufgefallen war. Leute wie Stave, die im alten Regime als »links« galten und die man auf unbedeutenden Posten kaltgestellt hatte, sind geblieben. Und neue Beamte wurden eingestellt – Jungs wie dieser Ruge, die vom Leben noch nichts wissen und von der Polizeiarbeit erst recht nichts. Acht Wochen Ausbildung, eine Uniform und ab auf die Straße. Anfänger, die erst im Dienst lernen müssen, was es heißt, Polizist zu sein. Angeber darunter, die, kaum in Uniform, Bürger anschnauzen und wie preußische Herrenreiter durch die Ruinen stolzieren. Und zwielichtige Charaktere, die man früher, in der Weimarer Republik und
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