Trümmermörder
Desinfektionsmitteln, feuchter Kleidung, Kohl, Schimmel.
Die Treppe führt ins Innere des Hochbunkers. Die erste Etage, eine mit weißer Ölfarbe unsauber hingepinselte römische Ziffer markiert an einer Stahltür das erste Geschoss. Stave betrachtet den zittrigen Strich, die blasige, zerlaufene Farbe, die im Licht einer nackten 15-Watt-Birne wie vernarbtes Gewebe aussieht. Dahinter Wände aus ungehobelten Brettern, die das Geschoss in ein Labyrinth verwandelt haben. So teilen sich die Bewohner winzige »Wohnungen« ab, Verschläge, in denen vier, sechs oder noch mehr Menschen hausen. Jacken und feuchte Regenumhänge baumeln an Nägeln. Irgendwo schreit erbärmlich ein Kind.
»Ich übernehme diese Etage, Sie die da drüber«, befiehlt Stave dem Schupo. »Und dann immer abwechselnd, bis wir den ganzen Hochbunker durchgekämmt haben. Fragen Sie jeden, ob er rund um den Fundort etwas beobachtet hat. Es mag noch so trivial gewesen sein. Und fragen Sie nicht nur nach den letzten vierundzwanzig Stunden, sondern auch nach den Tagen davor. Kann sein, dass die Tote dort schon länger liegt. Wenn sich jemand verweigert, treten Sie energisch auf. Bunkermenschen reden nicht gern und schon gar nicht mit der Polizei.«
Ruge grinst, schlägt die Hacken zusammen und fährt mit der Rechten zu seinem Schlagstock. Stave entgeht das nicht, doch er schweigt. Er ist zu müde, um Kindermädchen für übereifrige Schupos zu spielen.
Stave klopft an die Bretter des ersten Verschlages. Keine Antwort. Er schiebt ein dreckiges Tuch beiseite, das den Zugang zum Verschlag verdeckt. Eine Wehrmachtskrankenbahre als Bett, aufgebockt auf alten Obstkisten; schmutzige Kleidung auf dem Boden, ein Abiturzeugnis angepinnt an der Wand, das Papier gelb und rissig. Auf dem Laken der Bahre liegt ein augemergelter junger Mann und schnarcht. Stave rüttelt an seiner Schulter. Der Junge stöhnt und dreht sich zur Wand, öffnet aber nicht die Augen. Er stinkt nach selbstgebranntem Schnaps. Der Kerl ist betrunken. Er versetzt ihm mit der Rechten einen harten Stoß an der Schulter. Der Schläfer grunzt nur. Sinnlos.
Stave geht zum nächsten Verschlag: leer. Dann der nächste. Er klopft an das raue Holz.
»Wenn du pennen willst, geh nach nebenan!« Eine heisere Stimme. »Da ist niemand mehr. Aber lass dich vom Verwalter nicht erwischen und mach keinen Lärm.«
»Kriminalpolizei«, antwortet Stave und hebt einen alten, schweren Mantel an, der den Eingang verdeckt. Ölzeug, vielleicht von einem Seemann.
An der gegenüberliegenden Wand steht ein verrostetes Etagenbett ohne Matratzen. Auf dem unteren Bett liegt eine zusammengeknäulte Decke, am Kopfende ein alter Rucksack als Kissen. Dem oberen Bett fehlt das eiserne Netz, auf das man normalerweise die Matratze legt. Ein paar quer über den Rahmen gelegte Bretter bilden eine Art Regal, auf dem ein Seesack liegt, so randvoll gepackt, dass Stave befürchtet, die Hölzer unter ihm könnten knicken und ihre Ladung auf das Bett krachen lassen. Vor der Schlafstatt steht ein uralter Wohnzimmersessel, das Muster des Stoffes zu undefinierbaren Farben zerschlissen, die Rückseite verrußt: ein Beutestück aus einem zerbombten Haus.
Auf dem Sessel hockt ein Mann, den der Oberinspektor auf den ersten Blick für siebzig Jahre gehalten hätte. Dann sieht er genauer hin: fünfzig vielleicht. Eisgraues Haar, seit Wochen ungewaschen. Fettige Strähnen, die bis auf die Schultern reichen. Ein weißer Schuppenkranz auf den Schultern, leuchtend wie Schnee auf dem dunkelblauen Marinepullover aus schwerer Wolle. Dunkle Hose, große, eisenbeschlagene Arbeitsstiefel. Ein Mann, der in seiner Jugend groß und stark gewesen sein muss: Seine Muskeln, noch immer imposant, liegen halb verborgen unter einer erschlafften, faltigen Haut. Blaue Augen, buschige Brauen, eine fingerbreite Narbe, die sich vom linken Mundwinkel über die Wange bis zum Hals unter dem Ohr hin zieht. Blaue Tätowierungen auf den trotz der Kälte hochgekrempelten Unterarmen: Ein Anker, eine nackte Frau, ein Wort, das Stave nicht entziffern kann. Gestrandeter Seemann, denkt der Oberinspektor. Er tastet zum Griff seiner Pistole, während er gleichzeitig mit der Linken den gelben Polizeiausweis zückt.
»Anton Thumann«, sagt der Mann, steht aber nicht auf. Im Verschlag gibt es keine weitere Sitzgelegenheit als das untere Etagenbett, auf das sich Stave aber nicht zwängen will. Also erzählt er stehend, dass sie in der Nähe eine nackte Frauenleiche gefunden haben.
»Und
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