TS 44: Die Milliardenstadt
gewesen, warum heutzutage diese Kenntnisse niemand mehr besaß, warum, wenn ein Frischluftkanal ausfiel, die von diesem Kanal beschickten Räume geräumt werden mußten, anstatt daß sich jemand darum kümmerte, wie der Schaden entstanden war und sich darum bemühte, ihn zu beheben.
Nachdem er die Kassetten mit den historischen Aufzeichnungen studiert hatte, wußte er auch das.
Er kannte die Periode des aufkommenden Nonexistentialismus vom Anfang bis zu dem Zeitpunkt, da diese Philosophie gesiegt und sich angeschickt hatte, die Menschheit in den ewigen Schlaf des Nichtwissens zu versenken.
Der Anfang des Nonexistentialismus’ war die Forderung nach dem Disengagement mit der Technik gewesen.
Diese Forderung war auf fruchtbaren Boden gefallen, obwohl – oder vielleicht gerade weil, dachte Egan-Egan manchmal – die menschliche Technik zu jenem Zeitpunkt eine unvergleichliche Blüte erreicht hatte. Die Galaxis war durchforscht und dort, wo es sich lohnte, kolonisiert. Die Erde war der geistige Mittelpunkt eines ungeheuren Reiches. Erste Expeditionen schickten sich an, die Grenze der eigenen Galaxis zu überschreiten und andere Welteninseln anzufliegen – auf der Suche nach dem Bruder, den man in der eigenen Milchstraße nirgendwo gefunden hatte.
Es gab nichts mehr, wovor die Menschheit Angst zu haben brauchte. Die Krankheiten waren gebändigt, der Mensch hatte eine Lebenserwartung von mehr als sechshundert Erdjahren. Es gab keine Kriege mehr.
In diese Welt hinein platzte die Forderung der Nonexistentialisten. Sie verlangten, daß nur noch einer bestimmten Gruppe von Menschen der Zugang zur wissenschaftlichen Forschung erlaubt werden solle. Sie bauten eine Erkenntnisleiter, die vier Stufen hatte, und verlangten, daß nur, wer die oberste Stufe erreicht habe, ein Wissenschaftler sein dürfe.
Die Menschheit begann, den Nonexistentialisten zuzuhören und ihre Ideen gut zu finden. Der Glaube verbreitete sich mit einer Geschwindigkeit, gegen die jeder Andersgläubige machtlos war. Als die Regierungen erkannten, daß der Nonexistentialismus an den Grundlagen jeder bisher geübten Ordnung rüttelte, war es zu spät, um noch wirksam gegen die neue Philosophie anzukämpfen.
Die Nonexistentialisten siegten – nicht nur auf der Erde, sondern auch auf fast allen menschlichen Welten der Galaxis. Die Kastenordnung wurde eingeführt. Ein paar hundert Jahre lang hatte noch jeder Mensch die Möglichkeit, sich Prüfungen zu unterziehen und bei Bestehen in eine höhere Kaste aufzurücken.
Dann gefror die Gesellschaftsordnung. Wer der ersten Kaste angehörte, war nicht gewillt, noch mehr Menschen zu diesem bevorzugten Rang hinzuzulassen. Die Kastenzugehörigkeit wurde im Laufe weniger Jahrzehnte erblich.
Damit hatte auch die erste Kaste aufgehört, eine Gesellschaft von Wissenschaftlern und Forschern zu sein. Das „Disengagement mit der Technik“, von vornherein in den unteren Kasten mit Strenge durchgeführt, befiel auch die erste Kaste.
Wissenschaftliche Forschung gab es nicht mehr. Die neue Generation der Nonexistentialisten forderte die rigorose Selbstbesinnung des Menschen, die Abkehr von allem, was draußen lag – in jedem Sinne. Plötzlich gab es keine Verbindung mehr mit den anderen Welten. Die Menschheit lebte wieder allein für sich auf ihrem Planeten, als hätte es nie eine Periode gegeben, in der die Galaxis kolonisiert wurde.
Die Nonexistentialisten taten ein weiteres dazu: sie verdummten die Menschen systematisch. Fünf Generationen später war es nicht mehr schwierig, den Menschen klarzumachen, daß das Weltbild, das frühere Epochen geprägt hatte, falsch und verlogen sei. Alle Erkenntnisse wurden abgestritten und neue, nonexistentialistische Theoreme an ihre Stelle gesetzt.
Die Goldene Regel entstand und zwang die Menschheit in den Bann vorgeschriebenen Denkens und Glaubens. Die Nonexistentialisten selbst vergaßen mit der Zeit, daß nichts so war, wie sie es beschrieben hatten. Sie begannen, an ihre eigenen Worte zu glauben, und als sie das taten, da war die Stagnation vollständig.
*
Als Egan-Egan zwanzig Jahre alt war, zweifelte er nicht mehr daran, daß er dazu berufen sei, die Menschheit aus ihrer Hilflosigkeit zu befreien. Was die unterirdische Bibliothek ihn gelehrt hatte, empfand er als ein Vermächtnis – gegeben, um es weiterzuvermitteln.
Die Worte des letzten nicht-nonexistentialistischen Philosophen, geschrieben in der Verbannung unter der Erde, waren ständig in seinem
Weitere Kostenlose Bücher