TS 61: Der Mann mit dem dritten Auge
1.
DIE AUSSAGE DES THOMAS BARRON:
„Mein Name ist Thomas Barron. Ich war neun Jahre lang Partner von Mr. Slade in unserem gemeinsamen Maklergeschäft. Ich habe während dieser Zeit nie etwas Ungewöhnliches an Michael Slade festgestellt. Er hatte einen starken, aufrechten Charakter. Ich habe ihn immer für einen bewundernswerten, außergewöhnlichen Menschen gehalten. Ich habe ihn noch nach dem Autounfall, der den hier zur Sprache gekommenen Ereignissen vorausging, oft gesehen. Wie Sie wissen, hat er mir die ihm gehörenden Anteile der Firma Slade & Barron verkauft. Während der Verhandlungen hatte ich nie den Eindruck, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Ich kann dem Gericht leider keine Auskünfte geben, die den mysteriösen Fall etwas aufhellen würden.“
*
Der erste Schock war vorüber; der Wagen hatte sich überschlagen und lag auf dem Dach. Michael Slade lag benommen auf dem Rücken. Er spürte, daß etwas Furchtbares geschehen war, aber der Schock lähmte vorerst seine Reaktionen. Etwas Warmes rann von der Stirn über das linke Auge. Er wischte es fort und sah mit Entsetzen, daß es Blut war. Gleichzeitig stellte er fest, daß er seine Brille nicht mehr hatte. Er sah seine Frau und versuchte ein krampfhaftes Lächeln. „Wenigstens haben wir es überlebt“, sagte er schwach. „Ich weiß gar nicht, wie das überhaupt geschehen konnte. Wahrscheinlich hat der Steuermechanismus versagt.“
Er verstummte und sah seine Frau an, die sich aufgesetzt hatte. Trotz seiner starken Kurzsichtigkeit konnte er auch ohne Brille sehen, wie sie ihn verwirrt und entsetzt anstarrte. Er begriff nicht, was das bedeuten sollte. Es war doch alles einigermaßen gut abgegangen. Da war etwas in Miriams Augen, das ihn erschreckte. Abgesehen von einigen Prellungen hatte er keine ernsten Verletzungen erlitten; die Wunde an der Stirn schien auch nur ein ungefährlicher Kratzer zu sein. Und doch starrte Miriam unentwegt auf diese Stelle.
„Michael, die weiche Stelle an deiner Stirn!“ Sie brach ab und starrte weiter entsetzt auf ihren Mann.
„Ach was! Das ist nicht der Rede wert!“ versuchte Michael Slade seine Frau zu beruhigen.
Miriam schüttelte maßlos entsetzt den Kopf. „Die Haut ist abgerissen. Ein Hautlappen hängt herunter! Es ist ein Auge, Michael! Die weiche Stelle ist ein Auge!“
Slade begriff nicht. Er war selbst noch ein wenig verwirrt und glaubte, daß die wirren Reden seiner Frau auf den erlittenen Schock zurückzuführen waren. Trotzdem beugte er sich über den Rückspiegel, verstellte ihn ein wenig und blickte in das blutbeschmierte Gesicht, das ihm aus dem zersplitterten Spiegel entgegenstarrte.
Er hatte sich wirklich eine böse Verletzung zugezogen, einen Hautriß, der vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel ging. Ein großer Hautfetzen war abgeklappt und hatte die weiche Stelle an seiner Stirn freigelegt.
Michael starrte in den zerbrochenen Spiegel. Er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können, denn was er da sah, überstieg sein Begriffsvermögen: er sah ein drittes Auge, das bis zu dem Unfall unter der Haut verborgen gewesen war.
Das Augenlid war durch eine klebrige, gallertartige Masse geschützt, aber durch diese Masse konnte er bereits das Tageslicht sehen. Michael Slade spürte einen überwältigenden Schmerz. Das bis dahin verborgene Auge mußte sich erst an das grelle Licht gewöhnen.
Erschüttert blickte er seine Frau an, die instinktiv von ihm abrückte. Er konnte einfach nicht fassen, was ihm passiert war. Es war doch nur ein Autounfall, nicht einmal durch eigene Schuld verursacht. Nicht nur Miriam spürte die plötzlich aufkommende Furcht vor dem Ungewöhnlichen, sondern auch Michael Slade, mit dem sich die Natur einen makabren Scherz erlaubt hatte.
*
Schon am nächsten Tage hatten sich die Zeitungen dieser sensationellen Nachricht bemächtigt und berichteten ausführlich über diese merkwürdige Angelegenheit. Die Lokalzeitung in Michael Slades Wohnort brachte folgenden Artikel:
Bei einem Autounfall wurde gestern dem in unserer Stadt bekannten und geschätzten Geschäftsmann Michael Slade ein Stück Haut von der Stirn gerissen. Unter der Wunde kam ein drittes Auge zum Vorschein. Mr. Slade, der von einem vorbeikommenden Autofahrer ins Krankenhaus gebracht wurde, schien in guter Stimmung zu sein. Das Vorhandensein des dritten Auges konnte er jedoch nicht erklären. Er sagte, er habe von Kindheit an eine weiche Stelle an der Stirn gehabt, ohne allerdings
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