Will Gallows – Der Schrei des Donnerdrachen (German Edition)
Kapitel Eins Auf unsicherem Boden
Es war ein kühler Nachmittag, aber meine Großmutter Yenene saß trotzdem direkt vor dem zerbrochenen Fenster in ihrem Schaukelstuhl. Genau dort hatte sie auch schon letzte Woche gesessen, als Jez und ich sie besucht hatten – es war fast, als hätte sie sich überhaupt nicht von der Stelle gerührt. Um ihre Schultern lag ein schwarzes Tuch, und die seidigen grauen Haare fielen ihr bis auf die Hüften. Dunkle, besorgte Augen starrten aus einem runzligen Gesicht hervor. Ihre gelbgrüne Haut war so rau wie Ogerfell.
»Ich habe doch gesagt, du sollst mich nicht so oft besuchen kommen«, krächzte sie.
Ich nahm meinen Hut ab und strich die Feder, die an der Seite befestigt war, glatt. »Ja, stimmt, Grandma. Und
ich
habe gesagt, dass ich so lange wiederkomme, bis du Vernunft angenommen hast und mit mir kommst.«
»Du darfst nicht gehen, Will, es ist viel zu gefährlich. Mittlerweile haben wir hier jeden Tag mindestens ein schweres Felsenbeben.«
»Stimmt genau, Grandma. Also ist es umso wichtiger, dass auch du endlich umziehst. Diese Woche ist nur ein Fenster zerbrochen, aber was passiert nächste Woche? Stürzt dann das Dach ein?«
Sie seufzte und stieß sich mit dem Fuß vom Boden ab, so dass der Schaukelstuhl knarrte wie zwei ausgelatschte Himmelscowboystiefel. »Die Beben hören auch irgendwann wieder auf, du wirst schon sehen.«
»Du weißt genau, dass das nicht stimmt. Der High Sheriff hat schon vor sechs Monaten gesagt, dass
alle
den westlichen Arm des Kaktusfelsens verlassen müssen, und seither sind die Beben noch schlimmer geworden. Es kann nicht mehr lange dauern, bis der ganze Arm abbricht und ins Ödland stürzt. Wenn du jetzt nicht mitkommst, dann stürzt du mit ab.«
Grandma zog das Tuch ein bisschen fester um ihre Schultern. »Ach was, alles dummes Geschwätz, mein Junge. Du hast zu viele Geschichten gehört. Ich bin eine Elfe, und Phoenix Creek ist meine Heimat. Ich werde mir niemals von irgendeinem dahergelaufenen High Sheriff sagen lassen, dass ich hier weggehen soll. Ich wiederhole es gerne noch einmal: Ich werde nicht nachgeben. Der High Sheriff veranstaltet doch bloß einen Riesenzirkus, wegen nichts und wieder nichts.«
»Das ist kein Riesenzirkus, Grandma. Die illegale Goldmine hat den Felsenkern geschwächt. Die Ingenieure sagen, dass sie absolut nichts dagegen machen können. Ich weiß, wie du dich fühlst, ich bin ja schließlich auch ein Elf …«
»Ein halber Elf«, verbesserte sie mich.
»Also gut, dann eben ein halber Elf, aber ich liebe Phoenix Creek genauso sehr wie du, Grandma. Dass ich weggehen musste, hat mir das Herz gebrochen. Aber es ist hier einfach nicht mehr sicher. Außer dir ist niemand mehr hier, Grandma, und die Zeit wird langsam knapp.«
Mittlerweile war mir klar, dass jedes Wort verschwendet war. Grandma hatte die Lippen zusammengepresst und schaukelte vor und zurück. Dabei summte sie die ganze Zeit vor sich hin, als hätte sie glatt vergessen, dass ich überhaupt da war. Seit Monaten hatten wir immer wieder den gleichen Streit. Ich kam mir vor, als würden wir uns ständig im Kreis drehen.
»Haben Sie Hunger, Ma’am? Ich mache uns mal eine Kleinigkeit zu essen«, ließ sich meine Freundin Jez aus der Küche vernehmen und steckte den Kopf zum Zimmer herein. Offensichtlich hatte sie gelauscht und beschlossen, sich einzumischen, da ich bei Grandma nicht mehr weiterkam. »Ich habe einen Eintopf mitgebracht, selbstgemacht, nach einem alten Zwergenrezept. Und ich habe etwas von dem Runzelbeerenkuchen dabei, den Sie so gerne mögen«, sagte sie und packte ihren Proviantkorb aus.
Jez und ich haben uns vor einem Jahr kennengelernt. Damals hat sie mir geholfen, den Mörder meines Vaters zu suchen. Jez ist eine gute Kämpferin und, abgesehen von meinem Pferd Moonshine, meine beste Freundin auf dem gesamten Großen Kaktusfelsen. Sie arbeitet in der Küche des Forts von Mid-Rock City. Jedes Mal, wenn wir meine Grandma besuchen, packt sie möglichst viel Essen ein.
»Du musst dir doch nicht immer solche Umstände machen, Jez.« Grandma lächelte. »Aber es ist sehr lieb von dir. Ich schaffe es einfach nicht mehr, mir selber einen Kuchen zu backen.«
»Ich mache mir gern Umstände. Und außerdem … jetzt, wo alle Geschäfte in Oretown geschlossen haben, können Sie ja nirgendwo mehr einkaufen.«
»Genau. Was hast du in den letzten Tagen eigentlich gegessen?«, wollte ich wissen.
»Oh, ich komme schon zurecht. Ich habe ja schon
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