TS 96: Menschen auf fremden Sternen
Kalifornien. Sie war sehr höflich und aufgeschlossen. „War Ihr Mann bei der letzten Begegnung wie immer?“ fragte Wade nach einem formellen Gespräch.
Sie schüttelte den Kopf. „Er war völlig gesund, wenn Sie das meinen. Er war nur außergewöhnlich zuvorkommend. Er brachte mir sogar das Frühstück ans Bett. Das war ungewöhnlich, denn normalerweise dachte er immer nur an seine Bücher, und jede Störung schreckte ihn aus dieser Welt auf.“
„Erinnern Sie sich an das Buch, das Ihr Mann schreiben wollte, Mrs. Hughes?“
„Natürlich. Er war damals sehr stolz auf sich und hielt sich für den besten Schriftsteller aller Zeiten. Mir gefiel das Buch allerdings nicht. Es war nichts im Vergleich zu seinen anderen Arbeiten.“
Sie wurde unruhig und suchte ihr Taschentuch. „Ist er …? Ich meine …“
„Keine Angst. Es handelt sich nur um eine Routinebefragung.“ Wade Dryden verabschiedete sich. Er hatte versucht, sich ein Bild von dem Mann zu machen, der ihm so großes Kopfzerbrechen bereitete.
*
Die Zeitkommission unterhielt eine Einrichtung, die offiziell Orientierungszentrum genannt wurde. Die meisten Betroffenen nannten diese Einrichtung jedoch ganz einfach Pumpstation.
Kein Mensch durfte eine Zeitreise antreten, wenn er sich vorher nicht vollkommen mit den Gegebenheiten der anderen Zeit vertraut gemacht hatte. Wer in das Rom des Cicero reiste, mußte Latein beherrschen und die Lebensweise der zu dieser Zeit lebenden Menschen kennen. Fehler durften nicht gemacht werden, denn die Konsequenzen einer kleinen Aktion wirkten stets weiter und leiteten große Veränderungen ein. Die Zentrale nahm keine Rücksicht auf Kenntnisse oder Stellung. Wer in die Pumpstation geschickt wurde, mußte sich mit dem erforderlichen Wissen vollpumpen lassen.
Wade brauchte zehn Tage. Zehn lange Tage verbrachte er im Halbschlaf in einer isolierten Kammer. Eine kompliziert aussehende Kappe auf dem Kopf leitete all das nötige Wissen in sein Gehirn. Es war ein Wunder, denn nach der Behandlung würde er zwar alles wissen, sich aber nicht mehr an die Art des Erwerbs dieser Kenntnisse erinnern. Zehn Tage lang lag er unter der Einwirkung starker Drogen flach auf dem Rücken und ließ sich mit fremden Eindrücken vollpumpen. Er lernte Sprachen, den anderen Kalender, religiöse Besonderheiten der anderen Zeit; er wurde ein Mensch einer anderen Menschheitsepoche. Gerade das richtige Einfühlen in das Wesen einer anderen Zeit war ungeheuer wichtig, denn wenn er seine Arbeit richtig erledigen wollte, mußte er ein Geschöpf jener Zeit sein und nicht weise über den Dingen stehen.
Als er die Pumpstation verließ, war er teilweise ein anderer Mann, würde es zeit seines Lebens bleiben.
*
Er stand schon in dem unheimlichen Kasten und reichte Hank Chamisso noch einmal die Hand.
„Einen eindrucksvollen Federschmuck hast du dir zugelegt“, sagte Hank grinsend.
Wade grinste ebenfalls. Seine weißen Zähne bildeten einen starken Kontrast zu seiner künstlich bronzebraun gefärbten Haut. Er trug einen langen schwarzen Umhang und darüber einen Mantel aus Federn. Seine Haare waren mit getrocknetem Blut angeklebt, die Ohrläppchen aufgeschlitzt.
„Viel Glück, Wade!“
Wade Dryden trat weiter in den Kasten und betätigte den Türschalter. Er setzte sich auf den glatten Metallstuhl und wartete. In diesem Augenblick befand er sich noch im Jahre 2080. Das Licht wurde geisterhaft unwirklich, die Zeit verschwamm. Wade lehnte sich zurück und wartete. Er würde das Jahr 1445 erst in vier Stunden erreichen, das wußte er. Seine Gedanken konzentrierten sich auf diese Zeit. Er würde in eine fremde Welt eintreten und sich in ihr zurechtfinden müssen. An die Vereinigten Staaten war in dieser Zeit noch nicht zu denken. Die Zeit ist ein merkwürdiges Phänomen, dachte er. Hauptsächlich dachte er aber an Daniel Hughes.
*
Viele Jahre lang hatten sich Philosophen mit den Implikationen von Zeitreisen beschäftigt. Was geschieht wohl, wenn ein Mann in die Vergangenheit zurückkehrt und seinen eigenen Großvater ermordet? hatten sie sich gefragt. Schriftsteller hatten sich mit diesem Problem beschäftigt und die Möglichkeit parallel laufender Zeitströme angedeutet.
Theoretisch konnte ein Mann sich selber irgendwo begegnen.
All diese Gedanken wurden gedacht, als es noch keine Zeitreisen gab. Die Wirklichkeit erwies sich dann als bedeutend einfacher und unkomplizierter. Die Zukunft blieb den Menschen weiterhin
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