TTB 100: Der Traum der Maschine
wenigen Bekannten, die Nicholas gehabt hatte, kannten ihn nicht – hätten sie gelogen, wären ihre Reaktionen anders gewesen.
Die nächste Mittagspause verwendete Beatrice darauf, durch den strömenden Regen zu fahren und sich zu überzeugen, was mit den Bildern geschehen war. Sie ging in die kleine Galerie und wartete, bis Pierre sich zu ihr setzte. Sie kannte ihn seit Jahren.
»Pierre«, sagte sie verzweifelt. »Sie müssen mir helfen!«
Er war ein Mann von fast sechzig Jahren, der beim Anblick von Mädchen wie Beatrice sich seiner Jugend zu erinnern schien. Er machte Beatrice auf eine reizende, großväterliche Art den Hof. Er fragte:
»Was ist denn los, Kindchen?« Er schob ihr einen Hocker hin. Beatrice setzte sich und wartete auf das Feuer für die Zigarette.
»Diese Bilder«, sagte sie leise, »sind von einem Studenten, in den ich mich verliebt habe. Er ist verschwunden. Hat er sich hier gemeldet?«
»Nein«, sagte Pierre. »Niemand fragte. Nur die Bilder erregen das Erstaunen meiner Kunden. Sie wollen viel zahlen, schrecken aber stets zurück. Einen Moment, mein Kind.«
Er stand auf und ging einem gebückten, schnauzbärtigen Mann entgegen, der sich suchend umsah. Der Mann stellte sich laut vor; er war Wissenschaftler, Archäologe.
»Hören Sie, Monsieur Pierre«, begann er mit einer seltsam brüchigen Stimme. »Ich denke, ich kann nicht meinen Augen trauen. Was sagen Sie dazu?«
Er zog ein großes Foto aus einer Ledertasche und zeigte es Pierre, der schweigend daraufstarrte. Dann holte er die Brille hervor und betrachtete das Foto lange. Er drehte sich um, um es mit einem der Bilder zu vergleichen. Die Bilder hingen in Leinwandmontagen vor einer hellgrauen Wand.
»Erstaunlich«, sagte der Wissenschaftler. »Ich ging gestern nacht hier vorbei und dachte, mich träfe der Schlag. Dieses Bild darf es nicht geben!«
»Wieso?« fragte Pierre und lud den Mann ein, sich zu Beatrice zu setzen. Der Wissenschaftler zog ein Tuch aus der Tasche, nickte Beatrice zu und wischte sich die Stirn.
»Ich bin Archäologe«, sagte er. »Wir haben vor kurzem in Südfrankreich eine Höhle entdeckt mit den üblichen eiszeitlichen Artefakten. An der Wand dieser Höhle fanden wir Malereien.«
»Ich verstehe«, sagte Pierre. Beatrice hörte fassungslos zu.
»Kaum«, sagte der Wissenschaftler trocken. »Gestern früh wurde dieses Gemälde freigelegt. Heute nachmittag ist die erste Pressekonferenz. Dieses Bild dort und das Foto hier sind hundertprozentig identisch. Der Künstler kann dieses Bild nicht gesehen haben. Ausgeschlossen. Unmöglich!«
»Das kann ich Ihnen erklären«, sagte Beatrice heiser. »Der Künstler hat Ihre Höhle nicht betreten. Er hat geträumt, wie dieses Bild angefertigt wurde. Dann setzte er sich hin, halb besinnungslos, und malte es.«
»Woher wissen Sie das?« fragte der Archäologe gespannt.
»Ich kannte Nicholas Magat sehr gut. Er ist spurlos verschwunden, nachdem ihn ein Auto überfuhr. Ich bin hier, um nach ihm zu suchen, oder nach seinen Spuren. Vergeblich!«
»Er kann die Höhle nicht betreten haben. Dieses Foto ist der Originalabzug, gestern angefertigt. Wie lange ist das Bild schon hier?«
»Zwei Tage«, sagte Pierre und streichelte Beatrices Hand.
»Unmöglich. Können Sie das erklären? Verschwundener Künstler malt ein geträumtes Bild, das einen Tag später wirklich entdeckt wird, zum erstenmal gesehen seit dem Tag, an dem es der zu Staub zerfallene Künstler der Eiszeit gemalt hat. Das geht nicht mit rechten Dingen zu!«
»Fragen Sie nicht mich«, sagte Beatrice. »Ich weiß noch viel weniger als Sie. Es ist unfaßbar.« Sie kämpfte mit den Tränen.
Sie ging hinaus und ließ die Quittung über fünftausend Franc liegen. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, und sie flüchtete in den Fiat. Die beiden Männer sahen ihr kopfschüttelnd nach. Der Regen hatte aufgehört.
Dann gab es Beatrice auf, nach Nicholas zu suchen.
*
Ich lernte Beatrice Grandjean Ende des Jahres kennen. Mein Besuch war für Marcel Grund genug, eine kleine Party mit einigen seiner Freunde und deren Gattinnen oder Freundinnen zu arrangieren. Nachdem sich die Gäste zwar sehr lebhaft, aber nur über Vorzüge oder Nachteile der EWG unterhielten, saß ich ziemlich unbeteiligt herum und widmete mich dem vorzüglichen Whisky.
Beatrice kam etwas später, und Marcel dirigierte sie in meine Ecke. Wir unterhielten uns in zwei Sprachen lange und ausführlich. Im Laufe der Unterhaltung kamen wir
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