Im Tal des Windes: Roman (German Edition)
September 1845
An Bord der VJL Lionheart
D as Meer war endlos. Seit Wochen sah sie nichts als Wasser. Während ihrer Zeit auf See hatte Johanna mittlerweile gelernt, das Meer und seine Stimmungen zu lesen. Manchmal brachten wütende dunkelgraue Wogen selbst dieses riesige Schiff zum Schwanken, und mit den Flauten kamen kaum sichtbare Wellen mit hellen Kronen. Wie sie kannte das Meer so viele Stimmungen. Es war ihr zwar vertraut, doch nicht zu ihrem Freund geworden. Niemals konnte das Meer ihr Freund werden, denn es trennte sie von Liam.
Johanna drückte den Brief fest an ihr Herz. Sie sollte ihn wegwerfen. Ja, das wäre das einzig Vernünftige. War sie nicht deswegen an Deck gegangen? Doch der bloße Gedanke, das Letzte, was sie noch von ihm besaß, dem Meer zu überantworten, zerriss ihr das Herz. Johanna wischte sich mit dem Handrücken die Träne von der Wange. Nicht weinen, hätte Liam jetzt gesagt.
Wenn sie doch nur Nein gesagt hätte zu Thomas’ Antrag, dann könnte sie jetzt in Liams Armen liegen, anstatt diesem Mann, der kalt war wie ein Fisch, nach Neuseeland zu folgen. In ein Land, so fremd, als sei es einem Märchen entsprungen. Johanna hatte in den Wochen und Monaten vor ihrer Abreise versucht, so viel wie möglich über die neue Kolonie herauszufinden. Ursprünglich schien das weit entfernte Land keinen anderen Zweck zu erfüllen als Australien und Van Diemens Land. Gegründet als Sträflingskolonie und Stützpunkt für die Handelsrouten der Südsee, wurde es bald auch für Siedler freigegeben. Johanna hatte von riesigen Robbenbänken und Stationen von Walfängern gehört, die von dort bis ins ewige Eis segelten. Die Eingeborenen waren Menschenfresser und Kopfjäger, einen solchen Kopf hatte sie sogar schon einmal in einer Sammlung gesehen. Noch merkwürdiger sollten die Tiere sein. Und ausgerechnet dorthin fuhr sie jetzt. Das Fremde und Exotische hatte sie schon von klein auf fasziniert, doch jetzt, da sie es wirklich hautnah erleben sollte, war sie gar nicht mehr so sicher, ob sie für derlei Abenteuer geschaffen war.
Das wäre vielleicht anders an der Seite eines Mannes, den sie lieben würde, wie die Forscherehefrauen, die ihre Gatten in Wüsten und Urwälder begleiteten, aber nicht an der Seite von Thomas. Mit Thomas konnte sie nicht träumen, für ihn war Neuseeland eine gute Option, Geld zu machen, ein zweites Imperium aufzubauen, wie es die Fabrikantenfamilie Waters schon in England besaß. Und er hatte Johanna ausgelacht, als sie begann, Bücher, Karten, einfach alles zu studieren, was sie über ihre zukünftige Heimat in die Finger bekam. Mittlerweile kannte sie sich recht gut aus. Hatte die schauerlichen Berichte der ersten Entdecker James Cook und de Surville gelesen. Sie kannte sogar die Namen der beiden größten Berge Mount Egmont und Mount Ruapehu in der Region Whanganui auf der Nordinsel, wo sie zukünftig leben sollte, und Zeichnungen einiger Pflanzen und Tiere. Dennoch hatte sie das Gefühl, das Land sei nicht mehr als ein ferner Schatten. Sie wusste nicht genug, konnte sich im Geiste kein Bild von der Fremde machen.
Liam hätte ihren Wissensdurst verstanden, davon war sie überzeugt. Aber er war weit weg, mit jedem Moment entfernte er sich weiter, und sie würden einander nie, nie wiedersehen.
Obwohl der Tag ihrer ersten Begegnung eineinhalb Jahre zurücklag, kam es ihr vor, als sei es erst gestern gewesen.
Mai 1844
London
E ndlich hatte der Frühling auch in London Einzug gehalten. Johanna saß am Fenster ihres Zimmers und sah hinaus in den Garten, wo die erste Rose des Jahres zaghaft ihren Kopf nach oben reckte.
Im Haus war es still geworden. Offensichtlich hatten sich ihre Eltern wieder versöhnt, oder ihnen waren bei ihrem Streit die Argumente ausgegangen. Mit bangem Herzen hoffte Johanna, dass ihr Vater sich dieses Mal durchgesetzt hatte. Für sie war dieser Ausflug mindestens so wichtig wie für ihn.
Alles lag bereit. Ihre kleine Tasche und der hübsche weiße Sonnenschirm. Die feinen Spitzenhandschuhe, die sie neulich erst erstanden hatte, hatte sie bereits angezogen. Hastig puderte sie noch einmal ihr Gesicht, um die wenigen Sommersprossen zu überdecken, die sich auf ihre Nase verirrt hatten. Das war nur eines der Dinge, die Johanna nicht an sich mochte. Ihr Haar war langweilig, mittelblond, weder glatt noch richtig gelockt. Aufgesteckt und mit ein paar Nadeln verziert, war sie heute damit ausnahmsweise zufrieden. Wenn der Rest von ihr nur so interessant wäre
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