Tuchfuehlung
glückliche Gefühl. Und dieses Gefühl war schöner noch als Weihnachten. Ich habe ihren Lippenstift genommen, mir die Lippen angemalt. Dann ist sie hereingekommen. Und hat gelacht. Anders als die anderen. Ganz anders. So lieb wie immer. Sie hat mich nicht ausgelacht.
«Schön siehst du aus!», hat sie gesagt, mehr nicht. Sie hat mir die Locken gebürstet und mich in den Kindergarten gebracht.
Wenn es nicht klappt, kann ich immer noch Koch werden ... Lehrstellen für Schneider gibt es in unserer Stadt zurzeit nicht. Das weiß ich auch. Aber vielleicht irgendwo in einer anderen Stadt? Ich will sowieso weg. Und ich muss weg. Unbedingt ...
Ich lasse das kühle, raue Leinen zwischen meine Hände gleiten.
Ich mag dieses Gefühl der Stoffe zwischen meinen Fingerspitzen. Vor allem Seide oder Samt. Gefühl wie Haut, wie weiche, warme Haut.
Meine erste Kollektion ist fertig.
Zwei Hosen habe ich mir genäht. Weite Leinenhosen. In Weiß und in Schwarz. Dazu zwei Hemden.
Auch weiß und schwarz. Armani und Lagerfeld bekommen Konkurrenz.
Ich schau auf die Uhr. Noch hab ich Zeit. Noch bin ich allein. Mein Herz klopft. Ich leg mir meine Sachen über den Arm und geh ins Badezimmer. Die Tür schließe ich hinter mir ab. Dann zieh ich mich aus. Der Nackte da im Spiegel gegenüber bin ich. Hundertachtzig Zentimeter.
Mit meinem Körper kann ich zufrieden sein. Ich schau mich gerne an. Das Einzige an mir, was stimmt. Und doch stimmt was nicht. Ich bin schlank, kein Gramm Fett. Meine Schultern sind breit, meine Hüften schmal, mein Po musku lös. Die Beine nur leicht behaart und die Haare darauf so hell, dass man sie kaum erkennen kann. Die Haut ist glatt und ohne Pickel. Jetzt, nach diesem Supersommer im Schwimm bad, ziemlich braun. Ich finde mich schön. Ja, eine Seite in mir findet mich schön. Die andere verbietet es mir. Es ist zu viel passiert...
Ich streife mir die schwarze Hose über, dann das Hemd. Ja, diese Haut, die passt. Sie passt einfach zu mir. So wie damals das verdammte Matrosenkleid. Mit der Holzbürste durch die Haare. Lang sind sie, gefährlich lang. Schulterlang.
«Unsere Schöne!»
Nein. Nie wieder. Deshalb der Zopf, wenn ich auf die Straße gehe. Alles runter, die ganze lange Matte runter. Das war das Beste, natürlich, aber das schaff ich nicht. Sie sind Teil von mir, diese langen Haare. Mit kurzen Haaren w ä r ich nicht mehr ich selbst.
Lauras Schminkkasten. Ich tusche die Wimpern, lang sind sie und schwarz. Lippenstift, ein wenig nur, dann ein Blick in den Spiegel... Die blonde Frau aus der Jil-Sander-Werbung lächelt mich an.
Für einen Moment fühl ich mich in mir zu Hause. Das bin ich. Bin ich das? Ich entferne alle Spuren und häng die Sachen in den Schrank.
Schauplatzwechsel.
Die Küche! Meine Kochbücher! Dreimal in der Woche kann ich mich austoben. Offizieller Küchendienst. Meine Gerich te sind die besten. Das muss sogar mein Vater zugeben. Aber es zählt trotzdem nicht. Sie hat ja schließlich auch gut gekocht. Das ist nicht unbedingt etwas Besonderes. Jede Frau kann kochen. Und kocht sogar täglich. An seinen Tagen gibt es Spaghetti mit einer Soße aus der Tüte. Oder ein Fertiggericht aus der Tiefkühltruhe für die Mikrowelle. Er ist damit zufrieden. Ich bin es nicht. Zu ungesund. Außerdem macht Kochen Spaß. Die einen probieren neue Computerspiele aus, ich teste neue Kochrezepte. Ganz einfach. Die einen sammeln Goethe und Schiller. Ich sammle Kochbücher.
Mein Vater weigert sich, diese Sammelleidenschaft zu unterstützen.
«Zeitverschwendung, die ganze Kocherei, Zeno. Wozu der Aufwand? Die Mikrowelle tut ’ s doch auch. Lern lieber deine Vokabeln!»
Nur Laura versteht mich.
«Geh deinen Weg, Zeno. Deinen eigenen, auch wenn er sich einen anderen wünscht. Ich seh dich schon in deinem eigenen Laden. Restaurant oder Schneiderwerkstatt. Da hast du echt was los!»
Aber diese Unterstützung ist bald vorbei. Ein paar Wochen noch, dann ist sie weg. Und ich bin allein mit ihm.
Heute gibt es Seezungenfilets auf Dillsauce mit Nordseekrabben, rotem Reis und Erbsenschoten.
In zehn Minuten fang ich an. Als Vorspeise verschiedene Blattsalate, zum Nachtisch Vanilleeis mit Waldbeeren.
Wo Laura so lange bleibt? Ich öffne das Fenster und lehne mich hinaus.
Vor unserem Haus steht ein Möbelwagen. Die Wohnung im Erdgeschoss stand lange leer. Das scheint sich gerade zu ändern. Zwei Männer und eine Frau schleppen Kisten, Pflanzen und Bretter, hier und da ein Möbelstück. Sie sind noch
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