Tuchfuehlung
Aber, wenn Tabea Rosenkranz ihn allein schickt, weil sie lieber nach Hause geht, dann hab ich keine Chance. Dann brauche ich mein Referat überhaupt nicht auszupacken. Es wird tierisch laut sein. Zu laut für das Elend deutscher Straßenkinder. Für vierzigtausend kaputte Seelen. Sie haben mehr Aufmerksamkeit verdient. Sehr weit weg von uns, das Elend dieser Kinder. Und doch gibt es irgendwas, was uns verbindet.
Die zerstörte Seele?
Sie haben eine Kraft, die mir fehlt. Diese besondere Härte, eine innere Unabhängigkeit. Die Fähigkeit, sich einlassen zu können auf die unmenschlichsten Lebensbedingungen. Ich könnte niemals leben wie sie. Einfach so, auf der Straße. Ohne Schutz. Heimatlos. Woher nehmen sie die Kraft für dieses Leben? Sie sind stahlhart und unverwundbar. Ich beneide sie um diese Härte. Sie haben in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt hat sich auf ihre Haut gelegt. Auch ich habe wie Siegfried in Drachenblut gebadet. Mein Bad hat mich nicht unverwundbar gemacht. Ich habe diese verdamm te verwundbare Stelle zurückbehalten. Und die werde ich niemals los. Mein Trost bleibt nur die Packung, die Hüt te...
Nein, die Straße nicht. Schade! Auf der Straße w ä r ich sicher niemals allein.
Die erste Nacht ohne Laura. Ich hab sie überlebt. Immer hin.
Laura vergnügt sich jetzt in New York.
Was mach ich mit meiner Wut?
Es ist niemand da.
Vater im Bett mit Frau Minnerup, seiner Kontaktlinsenberaterin ...
Trotzdem durchhalten! Trotz Lindenblatt. Ein Panzer mit Schwachstelle ist mehr als gar keine Schutzhülle.
Zeno Zimmermann ist ein glücklicher Mensch!
Er war lange nicht so wahnsinnig wütend wie heute!
Er schmeißt die Musikanlage an. Dumpfe Techno-Bässe zerhacken seinen Schädel. Nein. Keinen Kaffee, keine Tageszeitung. Nicht für den Vater und erst recht nicht für Frau Minnerup!
Die fallen sowieso gleich aus dem Bett, wenn Zeno Zimmermann unter der Dusche steht und die Anlage aufdrehen muss, damit die zweihundert Beats in der Minute auch noch gut rüberkommen.
Aber keiner fällt aus dem Bett, kein Mensch klopft wütend an die Badezimmertür. Seltsam. Mir wird unbehaglich. Was ist passiert? Wie ein Einbrecher schleiche ich an seine Zimmertür. Stille. Totenstille. Ich muss es wissen. So tief und fest schläft kein Mensch. Und mein Vater hat besonders em p find liche Ohren. Ich drücke vorsichtig die Klinke herunter. Dann schiebe ich die Tür auf. Egal, was mich jetzt erwartet. Ich halte jede Szene aus. Sitze ja oft genug um Mitternacht vor der Glotze. Die Sonne knallt ins Zimmer. Das Bett ist leer. Ich bin fast ein wenig enttäuscht. Wie hätten die das gefunden? Mein Blick auf ihren nackten Körpern. Also haben sie die Nacht doch bei ihr verbracht? Damit ich sie nicht höre bei ihren orgiastischen Exzessen?
Auch gut. Dann hab ich die Wohnung demnächst wohl für mich allein. Allein, ja! Das ist es! Das bin ich. Sowieso und schon immer und jetzt erst recht. Scheiße! Verdammte Scheiße! Kaltes Wasser ins Gesicht, damit ich nicht anfange zu heulen. Tiefe Atemzüge. Gut, dass wenigstens das funktioniert.
Ich zieh mir meine Cornflakes rein und spring in meine Klamotten. Ich hab sie angepasst, mich angepasst an die 9 f. Unauffällig untergemischt. Mit Evas Hilfe. Damit es nicht wieder losgeht. Bis jetzt habe ich mich schützen können. Aber sie lauern. Der Neue. Er ist anders. Kann der über haupt reden? Nein, lasst ihn, der ist stumm, der Arme, der spricht nicht. Lasst das Weichei in Ruhe!
Der ist noch nicht dran!
Vorläufig haben sie genug damit zu tun, den neuen Referendar fertig zu machen. Noch ist keine Kapazität frei für mich...
Den Lichtblick des heutigen Tages pack ich in den Rucksack. Der absolute Triumph, dem ich seit meinem ersten Schul jahr hinterherjage. Ein ärztliches Attest, das mich bis auf weiteres vom Sportunterricht befreit. Unser Hausarzt hat mir erst mal geglaubt, dass ich unter Rückenschmerzen leide. Nur drohen jetzt die Spezialisten. Eine Überweisung zum Röntgenologen, eine zum Orthopäden, zwölf Massagen ... Mein Vater ahnt noch nichts von meinem neuen Leiden. Bis zu den ersten Rechnungen muss mir noch was einfallen. Mit sechzehn Jahren Rückenschmerzen! Das glaubt mir doch niemand!
Um Viertel nach sieben muss ich los. Die neue Schule for dert ihren Preis. Neun Stationen. Einmal umsteigen. Ich habe knapp kalkuliert. Wenn ich die Bahn verpasse, komme ich zu spät.
Und weit und breit keine Laura, die mich treibt. Ich bin nicht der Erste heute
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