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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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in der Mozartstraße 10. Ich hab ’ s geahnt, mit den neuen Mietern kommt Leben ins Haus. Unten im Flur schreit das Kind und zerreißt die Stille des Morgens. Ich nehme die Treppe. Kleines Training. Jetzt, wo ich offiziell keinen Sport mehr treiben darf. Aber sie sind schneller als ich. Am Ende der Straße erst, kurz bevor sie in die Bachstraße abbiegen, fängt sie mein Blick. Ein Mann, jung und schlank, mit kurzen blonden Haaren. Das Kind auf seinen Schultern hat aufgehört zu weinen. Es ist noch klein. Zwei vielleicht. Ein Mädchen? Es hat blonde Locken. So wie ich.
     
    In der ersten Stunde eine Fünf in Mathe.
    In der zweiten Stunde eine Fünf in Englisch.
    In der dritten und vierten Stunde genieße ich meinen ärzt lich verordneten Triumph.
    Ich hab meine Ruhe, bin ihnen nicht ausgeliefert. Stattdes sen muss ich in der muffigen Turnhalle sitzen. Zwei Stunden lang darf ich ihnen zuschauen. Das kann gefährlich werden ... mein Blick, den ich nicht mehr abwenden kann, wenn ich die Kontrolle über ihn verliere, dem ich ausgeliefert bin, wenn er mich entführt, verführt, der mich Bilder sehen lässt, die ich nicht sehen will und sehen darf und doch sehen muss ... Vor mir zwanzig Jungen, braun gebrannt in grünen Schultrikots. Ich würde gerne wie sie den Ball übers Netz baggern, dann hätte ich wenigstens diese Bilder aus dem Kopf. Aber ich würde mich nur lächerlich machen.
    Für die nächsten Stunden werde ich mir die Tageszeitung mitnehmen oder eins von diesen pseudointellektuellen Magazinen. Meine Lieblingsbücher lieber nicht. Die würden sich wie Geier auf mich stürzen. Da könnte ich auch gleich mitspielen.
    In der fünften Stunde die Katastrophe.
    Obwohl zunächst nichts darauf hingedeutet hat. Im Gegen teil. Markus Maurer, unser Referendar, kommt nicht allein. Tabea Rosenkranz steht ihm zur Seite. Es ist ruhig. So ruhig, wie es in der fünften Stunde noch sein kann, bei knurrendem Magen, verschwitzten Händen und der Hitze, die vor den Fenstern lauert, weil man sie nur kippen kann. Warum gibt es schon wieder kein hitzefrei?
    «Zeno Zimmermann, dein Referat bitte!»
    Sie ist nett, die Rosenkranz. Sie ist kompetent und gerecht. Mein Einstieg bei ihr heute mit der Fünf in Englisch war sicher nicht der beste. Ich muss diese Chance nutzen.
    Mein Referat ist gut, das Thema interessant, meine Aufregung mäßig. Lesen habe ich inzwischen gelernt. Diese Chan ce darf ich mir nicht entgehen lassen!
    Mein schöner schwarzer Lederrucksack hat heute wirklich ein reiches Innenleben. Alles, was wichtig ist, vieles, was unwichtig ist. Nur mein Referat, das wirklich gute Referat über deutsche Straßenkinder, das fehlt!
    Jetzt schwitzen nicht nur meine Hände. Aus allen Poren dringt der Schweiß. Mein T-Shirt, das selbst gefärbte, gebatikte, orangefarbene T-Shirt, die freiwillige Uniform der 9 f, ist schon ganz nass.
    Die Ruhe der ersten Minuten ist hinüber. Erste Kommentare erreichen mein Ohr. Kichern.
    «Weichei hat seine Kinder verloren! Auf der Straße! Ha! Ha!»
    «Was ist?», sagt sie. Ziemlich ruhig sagt sie das.
    «Ich kann es nicht finden!»
    «Ha! Ha!», lachen sie.
    «Hast du ’ s denn gemacht?», fragt sie.
    «Ja!»
    «Kann ja jeder sagen!», witzeln sie.
    «Ha! Ha!»
    «Du kennst die Bedingungen?»
    Ja, verdammt.
    Vergessen, liegen gelassen, verloren heißt erst mal: keine erbrachte Leistung. Also, eine Sechs ins rote Buch. Sie greift ihren Pelikanfüller.
    Auch egal. Verdammt egal. Das passt heute alles wunderbar.
    Zwei Fünfen, eine Sechs, keine Laura, keinen Vater, keine Mutter...
    «Er hat es aber gemacht. Ich hab ’ s gesehen!»
    Eva rettet mich auch nicht mehr. Vor der Sechs nicht. Höchstens vor meinem endgültigen Absturz heute.
    Vielleicht.
     
    In der Mozartstraße 10 ist es still wie immer. Nicht einmal das Kind schreit zur Begrüßung. Auch in unserer Wohnung kein Leben. Mein Vater in seinem Laden. Laura in New York.
    Ich bin allein. Daran muss ich mich wohl gewöhnen. Das wird ab heute immer so sein. Jeden Tag. Ein ganzes Jahr lang. Bis sie wiederkommt. Aber wer weiß, ob sie wieder kommt. Vielleicht verliebt sie sich jetzt endlich mal. Jetzt, wo sie den kleinen Bruder los ist.
    Ich weiß nicht, ob ich es ohne sie schaffen kann.
     
    Die Post! Nochmal alle Treppen, damit ich nicht einroste. Immer noch niemand im Haus. Gespenstisch ruhig die Flure, das Treppenhaus. Auch hinter den Türen kein Laut. Nein, Laura kann noch nicht geschrieben haben. So schnell fliegt kein Flugzeug. Trotzdem ist

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